16. Frage

Ist der Studentenspruch: ‚Die Vorlesung und die Leere‘ zu provokant?

Nicht, wenn Sie selbstkritisch, ehrlich und offen der Devise folgen: „Einfach einfach lehren“. Und wenn Sie Goethes Spruch im Faust vergessen: „Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.“ Auch Genies können irren!

Zur Einführung einer gelungenen Vorlesung sei eine kurze, von mir umfrisierte, literarische Anleihe bei Tucholsky gestattet, aus der man alles für eine „gelungene Vorlesung“ lernen kann.

 

Fangen Sie nie mit dem Anfang an, sondern immer weit vor dem Anfang! Etwa so:

„Meine sehr geehrten Damen und Herren Kommilitonen!

Bevor ich zu meinem eigentlichen Vorlesungs-Thema: ‚Die Komplexität der Zahlungsbewegungen bei der Gesamthypothek gem. § 1172 ff. BGB‘ komme, lassen Sie mich Ihnen zunächst kurz die Geschichte der Gesamthypothek darstellen…“

 

Hier haben Sie schon fast alles, was einen schönen Vorlesungsanfang ausmacht, richtig gemacht: Eine steife Anrede, die alle ins Hohlkreuz fahren lässt, der Anfang vor dem Anfang, die Ankündigung, dass und was Sie zu sprechen beabsichtigen und das Wörtchen „kurz“, das Sie dann selbstverständlich eindrucksvoll widerlegen werden. Ganz richtig! Fangen Sie immer bei den alten Römern an; gehen Sie ganz langsam von den Zwölftafelgesetzen über das römische Kaiserrecht zu Justinian, dem Göttervater unseres Rechts, kommen Sie dann behutsam zu den oberitalienischen Rechtsschulen, zur Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, ruhen Sie sich kurz bei der „Carolina“ Karls des Großen aus, streifen Sie mit einem längeren Blick die parallele Entwicklung in Frankreich und England und münden Sie dann so allmählich in die Motive des BGB ein, wobei Sie die Diadochenkämpfe zwischen Romanisten und Germanisten nicht unerwähnt lassen dürfen, ebenso wenig wie die juristischen Spiegelfechtereien, die sich das Königreich Sachsen mit dem Königreich Bayern über die Grundpfandrechte, Grundschuld und Hypothek, lieferte, bevor Sie dann den heutigen Rechtszustand der Gesamthypothek im Allgemeinen und Besonderen schildern.

 

So müssen Sie das machen! Sie haben ganz Recht: Man versteht es ja sonst nicht, wer kann denn das alles verstehen, ohne die geschichtlichen Hintergründe … sehr richtig! Die Studenten sind doch nicht in Ihre Vorlesung gekommen, um das lebendige Recht von Ihnen spannend zu hören, sondern das, was sie auch in Büchern nachschlagen können … sehr richtig! Immer gib ihnen Historie, immer gib ihnen! Denn das hat der Student gern: Dass er Ihren Dozentenvortrag wie ein schweres Schulpensum aufbekommt: Dass es Schlag auf Schlag, Drohung auf Drohung über ihm zusammenbricht; dass er durch Ihre gekonnten Verweisungen „wie oben dargelegt“ ins Schwitzen gerät über seine Vergesslichkeit; besser ist es noch, Sie verweisen häufiger nach unten: „Wie ich noch ausführen werde“, da kann er sich wenigstens im Rätselraten versuchen. Immer schön umständlich! Immer schön verworren, das ist Wissenschaft.

Sprechen Sie niemals frei – das macht einen so unruhigen Eindruck. Am besten ist es, Sie lesen Ihre Rede ab. Das ist sicher, zuverlässig, auch freut es jedermann, wenn der lesende Dozent nach jedem Viertelsatz misstrauisch hochblickt, ob auch noch alle Kommilitonen anwesend sind.

 

Sprechen Sie wie Sie schreiben! Sprechen Sie mit langen, langen, langen Sätzen, gestelzt und gedrechselt – solchen, bei denen Sie, die Sie sich zu Hause, wo Sie ja Ruhe, derer Sie so sehr benötigen, Ihrer Umgebung ungeachtet, haben, vorbereiten, genau wissen, wie das Ende ist, die Nebensätze, in die, wie Sie, die Sie rhetorisch geschickt sind, wissen, das Relevante, um das es Ihnen geht, gelegt wird, schön ineinander verschachtelt, so dass Ihre Studenten, ungeduldig auf ihren Sitzen, die, jeder modernen Ergonomik abhold, hart und unbequem sind, hin und her rutschend, sich in einem Seminar wähnend, in dem sie die chinesische Parteitagssprache an sich vorbeirauschen lassen, auf das Ende solcher Dozentenrede warten … Nun, ich habe Ihnen eben ein Beispiel gegeben. So müssen Sie sprechen!

 

Eine Vorlesung ist, wie könnte es auch anders sein, ein Monolog. Weil doch nur einer spricht – nämlich Sie. Sie brauchen nicht zu wissen, dass jede Vorlesung ein Dialog mit jedem einzelnen Studenten ist. Was schert Sie die emotionale Ebene – Hauptsache die Sachebene stimmt. Kümmern Sie sich nicht darum, ob die Wellen, die von Ihnen ins Publikum laufen, auch zurückkommen – Kinkerlitzchen! Sprechen Sie unbekümmert um die Wirkung, um die Studenten, am besten, Sie lösen gar keine Wellen aus. Sprechen Sie nur für sich, lesen Sie nur alles ab, schlagen Sie Ihre Studenten nur mit BGH- und Kommentar-Fundstellen und Zitaten tot bis sich keiner mehr muckst, erwähnen Sie nur alle Gesetze, derer Sie habhaft werden (aber lassen Sie nur niemandem Zeit zum Nachlesen, das passt nicht in Ihre Redezeit), juristeln Sie Ihre Gesamthypothek nur herunter, geschichteln Sie nur lange genug.

 

Blicken Sie nie auf, orientieren Sie sich allenfalls an den Schuhen Ihrer Kommilitonen.

 

Machen Sie keine Pausen, Sie könnten den Faden verlieren. Lallen Sie und schwallen Sie, dass allen die Sinne schwinden. Anstrengend muss es für Ihre Studenten sein, ausruhen können sie zu Hause. „Wenn ich spreche, müssen die anderen zuhören – das ist heute meine einmalige Chance!“ Missbrauchen Sie Ihre Macht!

 

Nur keine zuhörerfreundlichen Fall-Illustrationen, nur keine Ablenkungen durch irgendwelchen Medienfirlefanz, nur keine Tafel-Bilder, nur keine volkstümlichen Reden (unwissenschaftlich) – zurren Sie Fremdwort an Fremdwort, knüpfen Sie Latein an Griechisch, verknoten Sie juristisch Abstraktes mit juristisch Abstrakterem. Mit diesem Jura-Geflecht fesseln Sie alle. „Exempla trahunt?“ – Quatsch! Rhetorischer Schnick-Schnack. „Varietas delektat?“ – Wir sind doch nicht im Kabarett!

 

Würzen Sie Ihre Vorlesung mit viel BGH und RG und bandwurmlangen Gesetzesreihen, das hebt Ihre Rede! Das beruhigt ungemein, und da jeder in der Lage ist, zehn verschiedene Paragrafen und zwanzig Fundstellen mühelos zu behalten, so macht das allen auch viel Spaß. – Kündigen Sie das Ende Ihrer Vorlesung lange vorher an: „Ich komme zum Schluss“, und dann beginnen Sie von vorn und reden noch eine halbe Stunde. Das können Sie mehrere Male wiederholen. Das erhöht die Spannung. Und wenn die Vorlesung um ist, machen Sie einfach weiter, bis Sie den Hörsaal leer gepredigt haben.

 

Es stimmt schon: Jura ist nun eben einmal trocken. Stauben Sie sie ein, Ihre Studenten! Stauben Sie sie ein!

 

Damit ist fast alles gesagt für eine gelungene Vorlesung – der Dozent braucht praktisch nur das Gegenteil zu tun!

 

Ideales Bild der Vorlesung?

  • Die Vorlesung führt das rechtswissenschaftliche Denken am Gegenstand vor.
  • Die Vorlesung regt zum kritischen Mitdenken an.
  • Die Vorlesung motiviert und begründet ein inneres Verhältnis zur Sache.
  • Die Vorlesung kann man genießen.
  • Die Vorlesung gibt ganz praktisch Antwort auf die brennenden Fragen der Studenten, denn der Dozent entfaltet kognitive Empathie, d.h. er fühlt sich in seine Studenten ein.

 

  • „Wozu bist Du da, lieber Dozent?“
  • „Wozu ist das gut, was Du mir sagst?“
  • „Wofür brauche ich das?“
  • „Wo ist denn der Zusammenhang im juristischen Gesamtsystem?“
  • „Was hat der Gesetzgeber sich dabei gedacht?“
  • „Was steckt hinter dem Wortlaut des Gesetzes?“
  • „Warum gerade so und nicht anders?“
  • „Was denken andere darüber?“
  • „Wie sage ich es in der Klausur meinem Korrektor?“

 

Dafür muss es ein Wort geben. Eben: ideale Vorlesung.

 

Schlechtes Bild der Vorlesung?

Ich wiederhole mich zur Abschreckung gerne: Bleierndes Schweigen, gähnende Langeweile, zwanzig bis x-hundert Studenten zur Passivität verdammt und – aufgepasst – es spricht der Dozent. Endlose vierzig Minuten – und kein Ende ist in Sicht. Über was spricht der Dozent überhaupt? Eigentlich egal: jedenfalls spricht er langweilig! Hoffentlich ist es bald vorbei – es ist aber nicht vorbei: Es zieht sich! Der Dozent liest hölzerne Schachtelsätze oder Kettensätze ab, gestelzte Formulierungen aus Rechtsprechung und Literatur, die er sich zu eigen gemacht hat, eine Anhäufung von Substantivierungen, an deren Ende man den Anfang nicht mehr im Kopf hat. Querverweise werden ebenso wenig gekennzeichnet wie Exkurse oder Exkursionen in benachbarte Gebiete markiert werden. Exoten regieren den Normalfall, kurze Zwischenergebnisse fehlen. Das Zuviel an Informationen verstopft die studentischen Zugänge. Irgendwann bricht es dann ab. Fragen gibt es keine – man ist allseits froh, dass man es hinter sich gebracht hat. Jeder Student kennt die Situation: Es herrscht lähmendes Schweigen. Wenn der Dozent sich herablässt und der Form halber am Ende ein paar Anstandsfragen stellt, interessiert sich kaum jemand für deren Beantwortung, geschweige denn eine Diskussion, weil die wenigsten wissen, worum es überhaupt geht. Wenn gar ein gewitzter Student intelligent nachfragt? Was dann häufig zustande kommt? Die berühmten Scheinantworten, die mit der Frage nicht korrelieren – oder der Dozent beginnt gar, seine eigene Auffassung zum Thema noch einmal zu entwickeln und hält einen neuen Vortrag. Das Ergebnis einer Vorlesung ist leider nicht selten: der Dozent hat sich gelangweilt, die Studenten haben sich gelangweilt, der Dozent fühlt sich gestresst, und nichts bleibt hängen. Eine solche Vorlesung ist ungenießbar. Jeder kennt diese „Sternstunden“ der Wissenschaft.

 

Dafür muss es auch ein Wort geben: Eben: schlechte Vorlesung.

 

Die juristische Vorlesung und die Leere“ ist zugegebenermaßen eine überspitzte Formulierung. Und das Wort „Leere“ macht hier, zugegeben, richtig Spaß. Es soll aber die Frage deutlich werden lassen, warum so wenige Dozenten spannende juristische Vorlesungen halten können und die Studenten sich manchmal wie am Ende der katholischen Messfeier fühlen: „Ite missa est“ – „Geht, die gottesdienstliche Versammlung ist entlassen!“ Leert sich der Hörsaal oder werden reihenweise die Smartphones, Unterhaltungs- und Ablenkungsmöglichkeit Nr. 1, gezückt, ist es nicht immer die fehlende Motivation der Studenten, ihre mangelnde Fähigkeit oder Intelligenz. „Was ich will, was ich soll, was ich fürchte, was ich meine, was ich fühle, was ich von mir erwarte, was von mir erwartet wird“, das alles verquirlt oft zu einer schlechten Vorlesung. Eine langweilige Vorlesung ist für Studenten oft das Schlimmste, was sie erleben. Sie leiden darunter und beginnen, den Dozenten zu „hassen“.

 

Im Regelfall kann der Student sich darauf verlassen: Alles, was der Dozent vorträgt, steht schon irgendwo gedruckt. Bevor Bücher gedruckt werden konnten, musste sich jeder Student durch die Mitschrift der Vorlesung, in der der Professor sein Buch „vorlas“, sein eigenes Lehrbuch erstellen – nur dann konnte er das Gelehrte getrost „schwarz auf weiß nach Hause tragen“ und memorieren. Wer ein Buch besitzen wollte, musste sich selbst eins schreiben. Diese Zeiten sind seit Gutenbergs Erfindung der Buchdruckkunst, Gott sei Dank, längst vorbei. Man muss sich kein neues Lehrbuch anhand der Vorlesung erstellen.

 

Und dennoch ist es leider häufig auch heute in der juristischen Vorlesung noch so, dass die Aufzeichnungen des Dozenten durch zwei Köpfe hindurch wieder zu Aufzeichnungen, diesmal des Studenten werden. Vom dozentischen Manuskript durch den Dozentenkopf in den Studentenkopf und von dort ohne nachzudenken (mangels Zeit) auf das studentische Manuskript!  Die Vorlesung muss aber mehr bringen als einen solchen Zettel-zu-Zettel-Weg! Nur dann macht das „Unternehmen Vorlesung“ einen Sinn, wenn die Studenten die Vorlesung nicht gedankenverloren, zur Passivität verdammt, sondern aktiv beteiligt besuchen, wenn der Dozent ihre Passivität zur Aktivität ummünzen kann. Aufmerksames, konzentriertes Zuhören kann aktivere Arbeit sein als aktives Reden. Bienenfleißiges Mitpinnen oder umtriebiges „Schönfelderdurchwühlen“ sind eben keine Aktivitäten, sondern Scheinaktivitäten. Der Dozent hat es wahrhaft nicht weit gebracht, in dessen Vorlesung nicht mehr enthalten war, als das, was er vorgetragen hat.

 

Das Spiel ist partytauglich. Der Dozent sollte es einmal mit seinen Studenten spielen: Zwei sitzen mit dem Rücken zueinander. Der eine hat Papier und Bleistift. Der andere bekommt die Abbildung einer komplizierten geometrischen Figur. Diese beschreibt er seinem Mitspieler so präzise wie möglich. Der wiederum muss, allein der Beschreibung folgend, die Figur nachzeichnen.

 

Was nachher auf dem Blatt zu sehen ist, entspricht in etwa den Notizen, die Studenten sich während einer Vorlesung manchmal machen.

 

Die falsche Vorstellung von der traditionellen juristischen Lehrveranstaltung „Vorlesung“ ist es, dass juristisches Wissen von Dozenten an Studenten eins zu eins übermittelt werden könne. Anders ist das Überleben dieser ältesten aller Lehrmethoden nicht zu erklären. Ein Weiteres kommt als „Überlebensmittel“ für die mittelalterliche Vorlesung hinzu: Die Angst manches Dozenten vor modernen Lehrmethoden! Denn in einer Vorlesung alten Stils ist der Dozent überhaupt nicht bedroht: „Ich kann nicht vorgeführt werden!“ – „Ich bestimme, was abgeht!“ – „Ich bin der Herr über den Inhalt, ich lasse Fragen zu oder nicht, antworte oder antworte nicht!“ – „Ich habe die Macht!“ – „Ich habe ein Maximum an Kontrolle!“ – „Ich kann nicht hängen bleiben, denn ich lese ja überwiegend mein Skript vor!“

All das muss man als pathologische Lehrmethode bezeichnen. Das Motto der „Krankmacher“ heißt: „Noch mehr Stoff!“ „Kein Methodenwechsel!“ „90 Minuten muss man das aushalten!“ Der „vorlesende“ Kathederdozent, von oben nach unten unterweisend, ist der, der den Student bedingungslos überfordert; erst der Repetitor begegnet ihm dann auf der gleichen Ebene. Die tradierte Vorlesung ist eine riesige Verschwendung ökonomischer und personeller Ressourcen und treibt 98 % aller Jurastudenten in die Tempel der teuren privaten Rechtsschulen. Erst recht ist eine Einführungsveranstaltung im Format einer Großveranstaltung denkbar ungeeignet. Auch die „großen Vorlesungen“ in den dogmatischen Kernveranstaltungen stehen in ständigem Konflikt zwischen Fachsprache, Wissen, Methodik, wissenschaftliche Arbeitstechnik und Anwendungswissen.

 

Gut, den Dozenten, der passioniert auf seinem Vorlesungs-Manuskript wie auf einer Orgel spielt, der alle didaktischen und gesetzlichen Register zieht, dass die Studenten vom Rausch der Juristerei in die Lüfte gehoben werden, den wird man nur selten im Lehrsaal antreffen. Weit öfter begegnet man Gestalten und Gesichtern, die eher in die Tragödie statt in die Lehre gehören. Mit einem Gesicht wie ein korrigiertes Skript hört einem niemand gerne so richtig zu. Solch ein Gesicht ruiniert den besten Inhalt.

 

Hinzu kommt, dass die Vergessenskurve rapide in den Keller rast; 95 % des „vorgetragenen“ Stoffes verpufft in den Kurzzeitgedächtnissen; nach 15 Minuten hört keiner mehr aufmerksam zu; Missverständnisse bleiben bestehen; Nichtverständnis grassiert; kein Feedback; der Anwendungsbezug fehlt; keine Fragemöglichkeiten bei dieser Einwegkommunikation.

Komischerweise erfasst gerade die juristischen Anfänger ein lemminghafter Drang, in diese vorlesende Art der Lehrveranstaltung zu rennen. Warum die Jurastudenten so rennen? Zum einen gibt es ja meist keine Alternativen zu den Vorlesungen. Zum anderen sind die Vorlesungen wegen der Passivität und der Anonymität für sie nicht bedrohlich. (Für am Manuskript hängende Dozenten im Übrigen auch nicht.)

 

Studenten dürften es sich in den Jurahörsälen nicht mehr bieten lassen, unnötig kompliziert informiert zu werden, weil sie merken müssen (!), dass sie durch ihre Jurawissensgestalter nachlässig behandelt, wenn nicht gar missachtet werden. Oder genauso schlimm, sie sich nicht die Mühe machen, zu lernen, sich verständlich auszudrücken. Verständlich dozieren heißt, seinen Studenten Zugang zu einer ihnen noch gänzlich verschlossenen Welt zu eröffnen, intellektuelle Beteiligung zu ermöglichen.

 

Professor und Studenten sind beide aufgerufen zum Gelingen des Ganzen der Vorlesung beizutragen, von der jeder ein Teil ist, der eine als lehrender Professor, der andere als lernender Student, was Aufgeschlossenheit und Empathie für den jeweils anderen Teil voraussetzt. Die Lehrveranstaltung wird zur Lernveranstaltung. Die Orientierung an sich selbst und die Orientierung am anderen ist wichtig. Aber jeder von beiden ist ebenso verpflichtet für das Gelingen seines individuellen Selbst Sorge zu tragen. Wer sonst käme dafür unmittelbar infrage? Die Wünsche und Bedürfnisse beider Teile des Lehr-Lern-Prozesses müssen in diesem Beziehungsganzen ihren Platz finden und aufgehen können.  Das Motto „Sorge um den anderen und Sorge für Dich selbst“ bildet erst eine gelungene Koexistenz im Lehr-Lern-System, eine Versöhnung zwischen Autonomie und Abhängigkeit in diesem System.

 

Die Juraprofessoren werden nicht selten regiert von

  • einem „Ich-Tabu“, die eigene Person möglichst ganz rausnehmen,
  • einem „Erzähl-Tabu“, keine lustigen Fallgeschichten,
  • einem „Metaphern-Tabu“, keine merkfähigen Eselsbrücken und Bilder, und von
  • einem „Einfachheit/Knappheit-Tabu“, abstrakt statt konkret, komplex statt einfach dozieren.

 

Diese jura-akademische „Selbstverpflichtung“ der Dozenten treibt die Jurastudenten scharenweise aus den Hörsälen zu den Repetitoren.

 

Natürlich soll man nicht das „Ich“ zur Hauptperson einer Juravorlesung machen, aber die Person des Dozenten darf niemals völlig fehlen. Denn wenn der Dozent als lehrendes Subjekt hervortritt, wird der ganz wichtige persönliche, individuelle Anteil seiner lehrenden Betätigung kenntlich und Juralehren und Juralernen als ein lebendiger, menschlicher Prozess erfahrbar. Die Studenten lernen auch für Sie!

 

Und Metaphern-Tabu?– Man will doch nicht nur Gesetze und Theorien sprachlich in einer Vorlesung abbilden, sondern studentische Mitmenschen erreichen und ihnen Jura nahebringen. Da eine dozentisch-studentische zwischenmenschliche Kommunikation beabsichtigt sein sollte – was sollte es sonst sein? – sind verständnisfördernde Mittel unabdingbar. Und gute Metaphern gehören erstrangig dazu. Im Übrigen haben wir als Juradozenten ein unerschöpfliches Füllhorn von guten Geschichten als Erinnerungsanker zur Verfügung: Unsere vielfältigen Fälle! Das falllose „Über-die-Köpfe-hinweg-sprechen“ verödet jede Art von Lehre.

 

Viele fragen: „Muss denn wirklich alles verständlich sein?“ – „Ja! Es muss!“ In der Sprachverwendungssituation, in der Sie in der Vorlesung zu Ihren Studenten stehen, auf jeden Fall! Wozu lehren Sie denn sonst? In der Sprachverwendungssituation zu Ihren Kollegen können Sie so reden, dass Sie kein Student versteht. Das ist aber auch nicht nötig! Hier können Sie der eigenen Schönheit und Faszination einer komplizierten Sprache frönen, aber nicht im Hörsaal, wobei zu fragen ist, ob eine rätselhafte Ausdrucksweise überhaupt einen Eigenwert hat.

Gerade für den Einstieg kann ein Beispiel, ein Fall gar nicht einfach genug sein. Wie oft habe ich mich selbst in meinem Studium, aber auch später bei „Schriftgelehrten“ und „Fachtagungen“ nach einem einzigen Beispiel oder Fall gesehnt, um Thesen und Gedanken nachvollziehen und erinnerbar zu machen. Ist das unter mancher Professorenwürde? Oder können sie es einfach nicht „einfach“? Natürlich muss ein Fall sitzen, auf das Problem fokussieren, um das es auf abstrakter Ebene geht. Und der Fall darf nicht zu stark auf sich selbst lenken und ablenken, denn er soll ja „nur ein Beispiel“ sein – „für“ etwas!

Ganz wichtig für einen guten Dozenten ist es, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was im Kopf der Studenten vor sich gehen mag, wenn ich dies oder jenes so oder so sage. Und zwar von jemandem, der das alles noch nicht im Kopf hat, was ich im Kopf habe. Die Kunst ist es, das zu erahnen mithilfe dieser kognitiven Empathie. Das Zauberwort heißt: Gute Vorlesungsvorbereitungen sind immer verborgene Dialoge mit den Studenten: Das Einfühlen in möglichst etwas langsamere Studentenköpfe steigert die eigene Verständlichkeit enorm.

 

Sie hören auf, sich selbst und Ihre Studenten schon durch die Art Ihrer Vorlesung einzuschläfern, wenn Sie von Beginn an die fünf großen Kategorien der Verständlichkeit beachten:

  1. Einfachheit, d.h. geläufige, anschauliche Wörter verwenden und in kurzen, simpel gebauten Sätzen dozieren („Sprich wie ein Mensch und nicht wie ein Professor!“). Und immer nur mit ansteigender Komplexität lehren, nie mit absteigender. Sonst haben Sie schon 90 % Ihrer Studenten verloren.
  2. Struktur (lat.: structura, Gefüge, Schichtung), d.h. der Bauplan der Lehreinheit, ihre innere Gliederung muss stimmen. Hier geht es um den roten Faden, die Anordnung der Teile, die sichtbare und erkennbare Logik, die glasklare Trennung von Wichtigem und Unwichtigem und deren Erkennbarmachung, den Bau und den Aufbau und die innere Folgerichtigkeit Ihrer Vorlesung. („Wo komme ich her, wo stehe ich und wo will ich hin?“)
  3. Kürze und Prägnanz (lat.: praegnans, schwanger, trächtig, voll, strotzend), d.h., eine Balance zwischen einer ermüdenden, den geistigen Dialog abtötenden Weitschweifigkeit und einem allzu knappen, ja geradezu gedrängten Redestil zu finden. Die Wesentlichkeiten in griffiger Ausdrucksweise, in der Treffsicherheit im Wort und in leicht erinnerbaren Formulierungen und Wendungen auf den Punkt bringen.
  4. Stimulanz, d.h. die Lehrstunde verlebendigen mit Anschaulichmachern, kreativen, witzigen Redewendungen, Visualisierungen, anregenden Metaphern (griech.: metaphoria, Übertragung) und Fällen als lebendige lebensnahe Geschichten. Hier darf man aber des Guten nicht zu viel tun, sonst leiden die Prägnanz und die Kürze sowie der rote Faden unter dem Trommelfeuer der vielen „Gags“.
  5. Relevanz, h. die praktische Erheblichkeit des „Gelehrten“ für die Leistungsnachweise, sprich Klausuren, offenbaren, also klausurenkompatibel lehren.

 

 

Neben den fünf großen Schlüsselmerkmalen gibt es noch die „Elf“ der kleinen Unterkategorien:

  • Vermitteln Sie nicht nur Wissen, sondern schulen Sie auch Methodenkompetenz und geben Auskunft und Beispiele zu dem Umgang mit Methoden.
  • Geben Sie Hinweise zum Aufbau und bauen Sie selbst immer wieder Fälle auf.
  • Erklären Sie, warum der Fall nur so und nicht anders aufgebaut werden kann.
  • Problematisieren Sie die politische Entwicklung von Gesetzen und deren Veränderungen als „Fortschritt“, „Rückschritt“ oder „Stehversuch“.
  • Thematisieren Sie die Notwendigkeit eines Rechtsinstituts für Gesellschaft oder Wirtschaft.
  • Lassen Sie die Studenten teilhaben an der Entstehung von Theorien, einer herrschenden Meinung und am Dialog zwischen Wissenschaft, Rechtsprechung und Politik.
  • Geben Sie Ihren Studenten Lernvorschläge.
  • Beleuchten Sie richterliche Rechtsfortbildung kritisch und erinnern Sie an die Subjektivität der Richter.
  • Zerpflücken Sie einmal ein höchstrichterliches Urteil in Aufbau, Sprachstil und Inhalt.
  • Würdigen Sie die Rechtsprechung als den entscheidenden „Rechtsfortentwickler“ und nicht nur am Rande der professoralen Forscherrolle.
  • Schulen Sie in der Dialektik, indem Sie juristische Auseinandersetzungen mit einem Gegenüber in Gestalt von Gegnern, Vorinstanzen, anderen Meinungen in den Blick nehmen.

 

Das kann, ja das muss man als Dozent alles lernen!

 

Die besten Vorlesungen sind bekanntlich die, bei denen jeder Student glaubt, er hätte sie auch selbst halten können. Sternstunden für jeden – aber kaum zu finden. Die Vorlesung ist eine Herausforderung für die Dozenten. Gerade im 1.Semester hat sich die Spreu noch nicht vom Weizen getrennt, man trifft auf eine sehr heterogene  Hörerschaft: begabte und unbegabte, disziplinierte und undisziplinierte, faule und fleißige, sprachlich versierte und sprachlich ungeschulte Studenten. Welchen Teil nehme ich mit ohne den anderen zu frustrieren?

 

Die beste Lehre gibt es ohnehin nicht; nichts ist durch belastbare Untersuchungen untermauert. Eine 45-minütige klassische Vorlesung eines kompetenten, rechtsdidaktikgeschulten, einfühlsamen und begeisternden Dozenten kann ihr aber sehr nahe kommen. Vorlesungen braucht man wegen der häufigen Kritik nicht mit schlechtem Gewissen zu halten. Sie bietet bei guter Vorbereitung und didaktischem Können auch entscheidende Vorteile. Man muss die Chancen der Vorlesung gegenüber dem toten Lehrbuch aber auch nutzen!

 

Unterstützt wird dies alles durch die Ausstrahlungskraft der selbstbewussten, fachlich und didaktisch kompetenten Dozentenpersönlichkeit. Andererseits ist bei jeder Vorlesung der große Nachteil, dass die Lernzielkontrolle immer beschränkt ist und wegen des fehlenden Feedbacks die Gefahr besteht, seine Studenten zu überfordern.