Hinter-fragen, Nach-fragen und Ab-fragen tut man mit Fragen! Mit der Fragetechnik muss man sich schon beschäftigen, denn „frag-loses“ Lehren ist unmöglich! Sicher ist, dass die Dozentenfragen im Gegensatz zu den Studentenfragen durch eine unnatürliche Künstlichkeit gekennzeichnet sind. Der Dozent will ja gar nicht wissen, was er fragt, er weiß es ja selbst! Die Frage hat bei Dozenten eine ganz andere Funktion als im normalen Leben: Sie will keine Aufklärung und keine Wissenslücke schließen, sondern sie soll Lernhilfe sein! Sie soll den Studenten in eine produktive zweifelnde Verlegenheit bringen und ihn mit seinem Gedächtnis konfrontieren. – Sie soll den Lernprozess anregen.
- Wissenschaft lebt vom steten Zweifel. Also lässt man die Studenten mit Fragen zweifeln! „Hm“ – dieser Grundton aller Zweifler muss auch bei Ihren Studenten öfter ertönen.
- Lehren lebt vom Verstehen und Behalten. Also muss man als Dozent mit Fragen überprüfen, ob behalten und verstanden worden ist.
Gute Fragen sind nicht einfach zu stellen! In der juristischen Lehre sollte man sowohl Fragen stellen, die aus dem Gedächtnisspeicher oder aus reinem Faktenwissen der Studenten heraus beantwortet werden können, als auch solche, die die Studenten dazu zwingen, Antworten im Hinblick auf „denkende“ Lösungen selbstständig zu suchen.
Generell gibt es sechs große Fragegattungen für den Juradozenten:
- Anwendungsbezugsfragen: „Können Sie ein Beispiel dafür nennen, das meiner Aussage (Definition, Behauptung, Meinung) genügt?“ – „Können Sie das Gesetz mit einem Lebenssachverhalt unterfüttern?“ – „Haben Sie bei sich oder in Ihrem persönlichen Umfeld einen Fall von … schon einmal erlebt?“
- Vergleichsbezugsfragen: „Welchem Institut ähnelt unser Thema?“ – „Welche Ähnlichkeiten (Unterscheidungen) bestehen zwischen diesen beiden Rechtssätzen?“ – „Was ist das Gemeinsame, was das Trennende zwischen den beiden vorgestellten Theorien (Meinungen)?“
- Erarbeitungsfragen: „Nehmen Sie sich mal § XYZ vor und zerlegen ihn in sein Konditionalprogramm: Was sind seine Tatbestandsmerkmale und was seine Rechtsfolge?“ – „Können Sie einen Alltagsfall zu diesem Paragrafen entwickeln?“ – „Schließen Sie sich einmal § 181 BGB auf in seine drei Alternativen!“
- Schlussfolgerungsbezugsfragen: „Was ist dann die Rechtsfolge?“ – „Was ergibt sich bei Anwendung dieser Theorie (Meinung)?“ – „Was bewirkt die ‚Vertretung‘ im Rechtsleben?“ – „Welche Bedeutung haben ‚Verträge‘ für ein gedeihliches Zusammenleben?“
- Problemlösungsbezugsfragen: „Würden Sie bitte diese Theorie auf den Fall anwenden?“ – „Nehmen wir einmal an, Sie wären Richter …“ – „Ihr Fall, Frau Meier!“ – „Unterstellt, es gäbe keine Vertretungsregeln (so wie im Römischen Recht), welche Probleme ergäben sich für das Rechtsleben?“ – „Welche Fragen löst das Minderjährigenrecht?“
- Begründungsbezugsfragen: „Welchen Sinn hat das Abstraktionsprinzip?“ – „Warum gibt es die Vertretungsregeln?“ – „Warum ist das Grundbuch so, wie es ist?“ – „Warum ist die Meinung 1 vorzugswürdig?“ – „Warum gibt es ein Handelsregister?“
Diese Fragegattungen lassen sich dann auf folgende Fragearten herunter-brechen:
- Offene Fragen: Sie erwarten als Antwort eine umfangreiche Information oder Stellungnahme; die Studenten sollen aktiviert werden. „Welche Rechtsprobleme wirft dieser Fall auf?“ „Können Sie das bitte einmal begründen?“ „Wie ist die Rechtslage?“ „Was meinen Sie zu dem Fall?“
- Geschlossene Fragen: Sie werden mit Ja, Nein, Daten oder Fakten beantwortet; sie bedingen eine kurze Antwort; jede lange Antwort ist Ausflucht. „Welches sind die Voraussetzungen der Übertragung einer Briefhypothek?“ „Kann man gegen ein amtsgerichtliches Strafurteil Revision einlegen?“
- Kontaktfragen: Sie dienen der Kontaktanknüpfung und der Entspannung der Situation, sie sind didaktische Eisbrecher. „Wie geht es?“ „Wie war das Wochenende?“ „Was meinen Sie denn zum Abschneiden des 1. FC?“ „Haben Sie gestern in der Tagesschau gesehen, dass … ?“
- Organisatorische Fragen: Sie sollen den Ablauf eines Gesprächs im Unterricht oder die Gruppendynamik im Unterricht regeln.
- Hinführende Fragen: Wenn ein Dozent auf ein Thema zugehen möchte, ohne die Idee selbst zu präsentieren. „Was ist Ihnen beim Lesen des § 1113 BGB zur Akzessorietät aufgefallen?“ „Vergleichen Sie § 2096 BGB mit der Vor- und Nacherbschaft. Fällt Ihnen ein Unterschied auf?“
- Rhetorische Fragen: Sie sind eigentlich Aussagen in Frageform. Die Antwort ist vorweggenommen; Stilmittel im Gespräch.
- Fangfragen/Leimfragen: Der Dozent möchte jemanden hereinlegen; die falsche Antwort wird in den Mund gelegt. „Welches Gericht entscheidet über die Berufung gegen erstinstanzliche landgerichtliche Strafurteile?“ Bekanntlich gibt es keine Berufung!
- Motivierungsfragen: Sie sollen anregen und das Selbstwertgefühl steigern. „Na, ist das nicht super gelaufen?“ „Sie sind doch die Studentin, die vor einer Woche den schwierigen Fall so brillant gelöst hat?“
- Nachfassfragen: Sie wollen die Aussage weiter aufklären. „Nachdem Sie § 892 BGB gefunden haben, nennen Sie doch auch noch seine Tatbestandsmerkmale.“
- Provozierende Fragen: Durch Provokation soll die Belebung eines müden Gesprächs bewirkt werden; sie sollen auf noch vorhandene Gemeinsamkeiten aufmerksam machen. „Meinen Sie, der Fall sei unlösbar?“ „Sollten wir nicht gemeinsam einmal im Gesetz nachschauen?“ „Was verstehen Sie nicht?“ „Soll ich es noch näher erläutern?“ „Konnten Sie bis hierher überhaupt folgen, ganz ehrlich?“
- Zurückgebende Fragen: Die hochkomplizierte Frage des Studenten wird an ihn oder die Gruppe zurückgegeben; der Dozent drückt sich um die Antwort. „Wie würden Sie denn selbst die Frage beantworten?“ „Was sagen die anderen zu dieser interessanten Frage?“
- Alternativfragen: Es werden nur Alternativen vorgegeben und damit andere Wahlmöglichkeiten oder etwa ein Kompromiss ausgeschaltet; sie haben einen stark manipulativen Charakter. „Ist die Hypothek akzessorisch oder nicht?“
- Suggestivfragen: Es ist das Prinzip der Einengung des Antwortenden durch Hinlenken auf eine gewünschte Antwort; sie kann Blockierungen abbauen. „Sie sind doch auch der Meinung, dass …?“
- Zweifelsfragen: Sie sollen unreflektierte, starre Meinungen erschüttern; sie sollen dem Gesprächspartner die Möglichkeit geben, seine Aussage zu korrigieren. „Sind Sie sicher?“ „Können Sie das noch mal überdenken?“ „Was sagt Ihr Nebenmann dazu?“
- Ironische Fragen: Ironie sagt das Gegenteil dessen, was sie meint. („Brutus ist ein ehrenwerter Mann.“) Der Dozent will sich meist lustig machen über einen Studenten. Ist sie ein Mittel der Belebung des Unterrichts? Es ist jedem selbst überlassen, ob er solche Fragen einsetzen will. Man sollte sie für Personen meiden, für juristische Vorgänge, Meinungen und Urteile aber einsetzen.
- Kontrollfragen: Bei Fragen muss die Antwort so ausfallen, dass der Fragende zufrieden ist. „Ist Ihre Frage damit beantwortet?“
- Satzergänzungsfragen oder Silbenergänzungsfragen: Sie sollen dirigierende Hilfestellung reichen. „Der Vertrag könnte rückwirkend unwirksam geworden sein durch An……?“ (fechtung).
Jeder Dozent sollte sich überlegen, welchen Fragetyp aus dieser reichhaltigen Palette er in seiner Vorlesung gezielt einsetzen kann und welchen nicht. Und welche Frageform für seine Lehrmethode und seine Persönlichkeit geeignet ist und welche nicht. Und er sollte eine gute Fragetechnik entwickeln. Eine gute Frage ist immer genau formuliert, eindeutig zu beantworten und verhindert so Raten und Unklarheiten und regt zum Nachdenken an.
Sollte sich auf eine Dozentenfrage kein Finger rühren, zählen Sie ganz langsam bis 10, auch wenn es Ihnen wie eine Ewigkeit vorkommt, das Auditorium wird es Ihnen danken. Nach 10 Sekunden werden Sie ganz ruhig aktiv: „Sagen Sie einfach, was Sie denken!“ Wieder beginnt man zu zählen. Signal an die Studenten: „Ich habe alle Zeit der Welt!“ Der Druck auf die Studenten wächst, einige halten es nicht mehr aus, nach weiteren 5 Sekunden ist garantiert die erste Hand oben.
Was mache ich denn, wenn …… Fragen an mich gestellt werden?
- Nehmen Sie sie zunächst als Auflockerung und nicht als Beleidigung. Geraten Sie nicht gleich in Panik. Keep cool! Am Anfang fürchtet man Fragen wie der Teufel das Weihwasser! Studenten stellen nur Fragen, wenn sie sicher sind, dass sie dafür nicht herabgesetzt werden. Schaffen Sie also eine Atmosphäre, in der man sich traut.
- Warten Sie bei Verständnisfragen zunächst mit interessierter Miene drei Sekunden, bevor Sie Antwort geben. Sie verstärken damit die Wirkung einer guten Frage und sammeln die Konzentration aller anderen.
- Provozierende oder peinliche Fragen, die allerdings selten Zufall sind, blockt man gleich ab.
- Reine Informationsfragen beantworten Sie im direkten Gegenzug.
- Aggressiven Fragen können Sie durch eine sanfte Umformulierung oder andere Betonung innerhalb der Frage die Schärfe nehmen.
- Wiederholen Sie die Frage für das ganze Auditorium. „Die Frage ist, wie sich die Hypothek von der Grundschuld unterscheidet“. Sie gewinnen Zeit zum Überlegen und gehen sicher, dass jeder Student die Frage verstanden hat. Außerdem halten Sie die Aufmerksamkeit bei sich und nicht bei dem, der die Frage gestellt hat.
- Haben Sie den Mut zu sagen: „Ich weiß es nicht“. Pseudoantworten machen Sie zum Narren. Es ist keine Demütigung, öffentlich Unwissen zugeben zu müssen, kein Dozent kann alles wissen (nobody is perfect!). Sagen Sie dem Studenten, sie würden sich „schlau machen“ und ihm morgen eine Antwort nachreichen (Näch-ste-Stunde-Regel). Er wird es verstehen. Allerdings geht das nicht jeden Tag!
- Bei Sie korrigierenden Fragen müssen Sie lernen, Unrecht zu haben. Bessern Sie nach und bedanken Sie sich bei dem Studenten für seine Aufmerksamkeit. Einmal, aber auch wirklich nur einmal, können Sie sagen, sie hätten den Fehler bewusst begangen, um die Studenten zu testen. Damit nehmen Sie der Situation etwas von der „Peinlichkeit“ und lösen sie im gemeinsamen Lachen auf.
- Sagen Sie nie: „Eine sehr interessante Frage, Frau Seliger! Halten Sie doch morgen einmal ein kurzes Referat über das Thema. Dann haben wir alle etwas davon“. Es ist das sicherste Mittel, dass diese Studentin Seliger nie wieder eine Frage stellen wird – die anderen übrigens auch nicht mehr. Sagen Sie auch nicht: „Die Antwort können Sie selbst finden!“ Auch dieser Student wird seinen Finger nie mehr heben.
- Verschieben Sie die Antwort auf einen späteren Zeitpunkt, wenn Sie in Ihrem Fluss nicht unterbrochen werden wollen, mit Worten wie: „Darauf komme ich nachher noch zu sprechen“, „Danke für den interessanten Hinweis, ich werde später darauf eingehen“, „Bitte, gedulden Sie sich noch einen Moment, dann werde ich Ihnen gerne antworten“. Wenn Sie gar keine Antwort wissen, vergessen Sie „geschickt“ Ihr Versprechen. Am nächsten Tag spielen Sie den Vergesslichen: „Übrigens, da ist mir doch die Frage von Herrn Huber glatt durchgegangen.“
- Treten Sie die Flucht nach vorne an. Bedanken Sie sich für die Frage und geben Sie sie an die Studentengruppe weiter. „Vielen Dank, Frau Schneider, für den Hinweis! Meine Damen und Herren, bevor ich darauf eingehe: Wie sehen Sie denn das Problem, das die Kollegin angesprochen hat?“. Sie behalten die Fäden der Diskussion in der Hand, fassen nach kurzer Diskussion zusammen und stellen sich hinter das überzeugendste Argument.
- Angriff kann auch manchmal die beste Verteidigung sein. Sagen Sie so selbstsicher wie möglich: „Ich glaube, dass die Frage hier nicht hingehört“, „Danke für den Einwand, lassen Sie mich aber in meinem Gedankengang fortfahren“, „Die Frage führt uns zu weit vom eigentlichen Thema ab“, „Die Frage hat keinerlei Klausurrelevanz, wollen Sie, dass ich sie dennoch beantworte?“ Die Frage wird zurückgezogen, wetten?
- Demonstrieren Sie Methodik! Antworten Sie im Gutachtenstil! Wenden Sie die Subsumtionskunst an! Die Studenten lernen, wenn sie Sie beim antwortenden Denken beobachten dürfen. Sie können lernen, wie Sie als Fachmann an das in der Frage steckende Problem herangehen. Gerade am Anfang eine Art des Lernens, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
- Grundsätzlich muss allerdings gelten: Jede Frage muss ernstgenommen und mit Höflichkeit und nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet werden. Ausflüchte, gedrechselte Worttiraden, unter denen das Nichtwissen versteckt wird, werden sehr schnell durchschaut.
- Haben Sie den sicheren Eindruck, dass ein Student die Frage dem Kommentar entnommen hat, die Antwort schon kennt und sich vor Ihnen und den Kommilitonen nur aufblasen will, stellen Sie ihn bloß: „Herr Schmitz, Sie kennen doch die Antwort! Lassen Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben“.
- Achten Sie auf Fallen, darauf, was der Fragende wirklich will. „Ich will Sie ja nicht kritisieren, aber …“. Genau das will er! „Ich will ja nichts Negatives sagen, aber …“. Doch, er will etwas Negatives sagen! „Entschuldigen Sie diese triviale Frage …“. Er hält seine Frage für äußerst schlau! „Ich will ja nicht den Provocateur spiele, aber …“ Genau das will er, Sie provozieren.
- Wenn jemand bei der Fragestellung zum monologisierenden Dauerredner entartet oder zum Dauerfrager mutiert, müssen Sie ihn stoppen. Damit helfen Sie ihm, sich selbst – aber besonders den Mitstudenten! Wir kennen ihn alle, den „Schwätzer“, der sich gern reden hört, auch wenn er nichts zu sagen hat und der nie ein Ende findet. In den meisten Fällen ist Dauerreden ein psychologisches Problem, es scheint sich um eine Art von Selbstbefriedigung zu handeln, weswegen die Amerikaner den Dauerredner als „Egospeaker“ oder drastischer den Redeerguss als „psychological speech-masturbation“ bezeichnen. Auch kann die Ursache in einer Profilneurose, in Geltungssucht oder Geltungsbedürfnis liegen – egal, wie auch immer, der Dauerredner nervt und ist lästig. Sie können ihn nicht heilen! Fahren Sie ihm in die Parade mit: „Ich glaube, wir wissen, was Sie meinen“ oder „Wie hängt das Gesagte mit dem Thema zusammen?“ oder „Gut! Was sagen die anderen dazu?“ und beenden Sie das Gerede! Sie können auch das Gesprochene in einem Satz zusammenfassen: „Haben Sie das gemeint?“ Sie sollten ihn aber in einer Pause zur Seite nehmen und mit ihm über sein Problem offen sprechen. Er wird Ihnen das widmende Gespräch ebenso danken wie die Studenten im Übrigen.
- Hören Sie auch auf die „Frage hinter der Frage“! In Untertönen werden Ihnen manchmal emotionale Signale, Hilferufe und Aggressivität gesendet, die Sie heraushören und ernstnehmen müssen. „In Anbetracht der Vehemenz, mit der Sie die Frage vortragen, sehe ich, dass Sie sehr engagiert sind. Das freut mich!“
Bei allen Fragen müssen Sie noch auf 4 Phänomene achten:
- Ihre Fragen müssen lange genug im Raum stehen.
Auf Antworten warten zu können, ist ganz schwierig! Anfängerdozenten geraten nach einer Sekunde in Panik. Dann beantwortet der Dozent die Frage sehr rasch selbst und die Studenten lernen, dass er gar keine Antwort erwartet und stellen alsbald die gedankliche Mitarbeit ein. Lassen Sie die Frage deshalb zunächst im Raum stehen.
Keine Schnellschussfrage: „Welche Voraussetzungen hat die Aufrechnung, Frau Höttgen?“ Weder Frau Höttgen noch der Rest der Studiengruppe hatten Gelegenheit zum Nachdenken. Frau Höttgen beginnt jetzt fieberhaft mit den Überlegungen, während der Rest, da ja der Kelch der Frage an ihnen vorübergegangen ist, ganz einfach abschaltet: Es hat ja einen anderen getroffen. Auf Frau Höttgen lastet jetzt eine unerträgliche Pause, die zu Denkblockaden führen kann. Der Rest der Studenten fühlt nach einiger Zeit, dass die Frage weitergegeben werden könnte und versucht krampfhaft, sich der Frage zu erinnern. Das Ultrakurzzeitgedächtnis hat sie aber längst gelöscht. Der jetzt Aufgerufene muss bei dem Dozenten nachfassen – „Wie war noch mal die Frage?” – Der Dozent wird ärgerlich, die Studenten nervös! Eine durchaus vermeidbare Vorlesungssituation, wenn man folgenden Ratschlag beherzigt: Man formuliert die Frage, schweigt – und lässt sie länger im Raum stehen. Pausen und Schweigen spielen eine nützliche Rolle. Sie geben Zeit zum Nachdenken und zum Gesetzlesen. Jetzt haben alle die Zeit nachzudenken, sich zu konzentrieren, keiner kann abschalten, da es ja jeden treffen kann. Und jetzt bittet man erst Frau Höttgen um ihre Antwort.
- Sie sollten möglichst schnell die Namen der Studenten anhand eines Sitzplanes auswendig lernen.
Dieser Ratschlag ist sehr wichtig. Es wirkt immer etwas diskriminierend und geradezu peinlich, wenn man nach Wochen seiner Lehrtätigkeit zwanzig Namen beherrscht, bei dem einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Studenten bei einer Antwortsuche aber nachfragen muss. Diese beiden kommen sich nicht zu Unrecht als von dem Dozenten nicht recht ernstgenommen vor. „Sie da, mit dem schwarzen Pullover – nein daneben – ja Sie“, „Wie war doch gleich Ihr Name?“, „Frau Meier – ach nein – ich meine Frau Schmitz, verdammt – genau – Frau Müller sind Sie ja“. Verballhornungen von Namen sind ebenfalls schlechter Stil und machen die Studenten lächerlich. Der Name ist nun einmal individueller Bestandteil der Persönlichkeit – man muss ihn ernst nehmen. Es ist auch keine Entschuldigung, wenn man in vier Studiengruppen parallel oder nur mit zwei Wochenstunden unterrichten muss und am Ende des Studiums immer noch nicht die Namen beherrscht. Den Studenten ist es gleichgültig, in wievielen Gruppen Sie wieviele Wochenstunden absolvieren, jetzt sind Sie bei ihnen, und sie wollen in ihrer Würde hier und jetzt beachtet werden. Zu Recht!
Einige Ratschläge dazu: Bevor Sie in die Studentengruppen gehen, sehen Sie sich in der Pause den Studentenspiegel an; auf der Nachhausefahrt repetieren Sie; Sie lassen Namensschilder aufstellen; in einer sehr schnell anberaumten Stillarbeitsphase oder Murmelpause gehen Sie alle Gesichter durch und memorieren die Namen. Kurzer Blick in den Hörsaal amerikanischer Elite-Law-schools? Übersichtlichkeit, feste Registrierung der Studenten, Anwesenheitspflicht, feste Sitzordnung, jeder Student hat eine Sitznummer und ein Namensschild, Dozent verfügt über einen elektronischen Sitzplan mit der registrierten Sitzplatznummer und zugeordnetem Foto des Studenten.
Für Massenvorlesungen gilt: Nicht fünf Studenten mit Namen ansprechen, die man zufällig als studentische Hilfskräfte kennt. Das beschämt die Genannten und diskreditiert die Unbekannten. Gleiches Recht für alle: Entweder alle oder keinen!
- Sie sollten öfter indirekte Fragen stellen.
W-Fragen schränken die Antwortmöglichkeiten ein und hemmen das selbstständige Denken, treiben aber das Lehrgespräch. Die folgenden indirekten Fragen, die nicht mit „W“ beginnen, treiben das Denken, hemmen aber das Lehrgespräch.
„Kritisieren Sie diese BGH-Entscheidung!“ – „Diskutieren Sie einmal mit Ihrem Nebenmann über die Lösung des Falles!“ – „Vergleichen Sie einmal Meinung 1 mit Meinung 2!“ – „Erörtern Sie einmal die Vorteile und Nachteile der objektiven und subjektiven Theorie!“ – „Wägen Sie die Rechtsprechung des OLG gegen die BGH-Entscheidung ab!“ – „Stellen Sie die Unterschiede von Hypothek und Grundschuld dar!“
- Wie halten Sie es im dialogischen Lehrgespräch beim Fragen mit dem “Aufrufen” und “Drannehmen” und den damit korrespondierenden Studententätigkeiten des “Sich-meldens” und “Drankommens”?
Ich will Sie einmal mit einigen empirisch recht genau untersuchten Mechanismen des “Drankommens-Drannehmens-Komplexes” konfrontieren. Dann können Sie sich entscheiden, wie Sie es handhaben wollen.
- Die leistungsschwachen Studenten werden insgesamt seltener aufgerufen als die leistungsstarken.
- Mit den Studenten auf hohem Leistungsniveau hat man als Dozent häufiger Augenkontakt als mit den Studenten auf niedrigem Leistungsniveau. Während man jene oft und gerne anblickt und fragt, sieht man über diese nicht selten hinweg.
- Man macht als Dozent den Fehler zu glauben, gute Studenten würden einen durch ihre treffenden Antworten oder Beiträge für den “gelungenen” Unterricht belohnen, während die schlechten einen umgekehrt bestrafen oder beleidigen wollten.
- Durch den genetisch programmierten Trieb zum Licht bevorzugt man häufig automatisch die Fensterreihe. (Das können Sie überall beobachten.)
- Wenn man – was bekanntermaßen nicht selten vorkommt – in Stoffdruck gerät, reitet man nur noch auf den Wellenspitzen der guten Studenten, während die schwachen Studenten im Wellental sitzenbleiben.
- Man lobt bei Antworten die schwachen Studenten seltener als die starken. Manchmal bemerkt man diesen Fehler und lobt jetzt völlig übertrieben und aufgesetzt. Auf eine Silbenergänzungsfrage, die der Student mit “Bravour” löst, antwortet der Dozent: “Ausgezeichnet” – auch für den Studenten eine peinliche Auszeichnung.
- Man neigt dazu, bei schlechten Studenten weniger Geduld zu haben als bei den leistungsstärkeren. Man drängelt mehr und gibt weniger Zeit zum Überlegen. Bei den Besseren bleibt die Frage länger im Raum stehen.
- Man geht mit den falschen Antworten schwächerer Studenten anders um als mit den falschen Antworten leistungsstarker Studenten. Man interpretiert unbewusst die eigene Erwartungshaltung von guten oder schlechten Studenten in ihre Antworten hinein nach dem Prinzip: “Naja, war ja klar, der Schmitz, wieder Mist” – oder – “Naja, Ausrutscher, Frau Meier hat es sicherlich anders gemeint”.
- Beim guten Studenten fasst man nach – den schlechten lässt man liegen. Umgekehrt bohrt man manchmal tief nach bei dem schwachen Kandidaten und beeinflusst damit nachhaltig seine negative Stellung im Studentenverband.
- Man neigt leider dazu, den Schwachen eher reinzulegen, seine Antworten zu ironisieren und ihn bloßzustellen.
- Man denkt, dass das Schweigen eines Studenten immer bedeutet, dass er keine Antwort zu geben weiß – und denkt nicht daran, dass die Frage ihm langweilig und viel zu einfach vorkommen könnte. Ihm ist es manchmal gegenüber seinen Kommilitonen einfach peinlich, sich für eine derart „billige“ Frage Punkte bei dem Dozenten einzuheimsen.
- Man nennt nicht immer den Namen des aufgerufenen Studenten, sondern fordert mit Augenkontakt, Kopfnicken oder gar dem Zeigefinger zur Antwort auf. Die Studenten haben aber einen Anspruch, beim Namen genannt zu werden. Das ist eine Frage des Respekts. Ganz nebenbei erreicht man dabei eine persönlichere Gesprächsatmosphäre.
- Der Umgang mit stillen Studenten ist streitig. Sie müssen sich zu einer Meinung bekennen und den Studenten dies mitteilen!
- Meinung: Man nimmt immer nur nach Meldung „dran“ („Warm-Call“). Der Student solle selbst darüber entscheiden, ob er sich aktiv beteiligen will. Die Angst sei ein schlechter Lehrmeister, im Übrigen verprelle man den Studenten und stelle ihn diskriminierend bloß.
- Meinung: Man nimmt auch ohne Meldung „dran“ („Cool-Call“). Der Student müsse lernen, sich aktiv zu beteiligen und unter Stress zu argumentieren. Man müsse als Dozent gerade in der Juristerei dafür sorgen, diese Fähigkeit durch den „Cold Call“ zu entwickeln. Das Drannehmen nur nach Meldung („Warm Call“) favorisiere die ohnehin Selbstbewussten. Schließlich werde auch im mündlichen Examen nicht nach Meldungen geprüft!