24. Frage

Warum sagt man, der Einstieg sei die Visitenkarte und der Appetizer einer Lehrstunde?

Weil Sie mit dem Einstieg das Kostbarste gewinnen, was es in der Vorlesung zu gewinnen gibt: Aufmerksamkeit, Beachtung, Interesse der Studenten an Ihnen und damit an Ihrem Stoff. Er ist das Tor, durch das Ihre Studenten in die neue Landschaft Ihrer Vorlesung wandern. Sie können aber auch mit dem Einstieg alle Zuwendung Ihrer Studenten zunichte machen, wenn er abstoßend, unverständlich, zum Gähnen langweilig oder unwitzig albern und peinlich ist. „You never get a second chance to make a first impression“. 20 Sekunden nach Ihrem Einstieg ist die Entscheidung Ihrer Studenten gefallen: Zuhören oder abschalten.

 

Eigentlich hört es sich doch verdammt mühelos an das „Da beginne ich einfach mit meiner juristischen Lehrstunde“ und ist dann doch so verdammt schwer, der Einstieg, das Abholen und Mitnehmen der Studenten auf den Streifzug Ihres juristischen Themas.

Ein nie gehaltener Vortrag in sechs Einstiegsvariationen

  1. „Irgendwie sind Sie heute in meinen Vortrag „Eine Annäherung an die Kunst des juristischen Lehrens“ geraten. Hören Sie bloß gut zu! Ich kann Sie nur warnen! Lernen Sie seinen Inhalt Punkt für Punkt quasi auswendig! Didaktik ist zwar langweilige Theorie und macht wie alle Theorie überhaupt keinen Spaß, aber es muss sein! In einigen Wochen macht Ihr Leiter Vorlesungsbesuche, um Sie zu beurteilen. Danach sollen Sie ihm Rede und Antwort stehen. Es wird sich herausstellen, ob Sie Didaktik gewissenhaft gelernt und geochst oder bei mir nur oberflächlich zugehört haben. Sein Ergebnis wird Ihrer Personalakte beigefügt, um bei Ihrer Karriereplanung berücksichtigt zu werden. Auch droht die Evaluation durch die Studenten – Sie kennen diese psychologische Keule!“
  2. „Ich möchte, dass Sie mir versprechen, mir bei meinem Vortrag über eine „Annäherung an die Kunst des juristischen Lehrens“ ernsthaft und aufmerksam zu folgen. Mir ist es sehr ernst mit diesem Thema der juristischen Didaktik. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, meine Erfahrungen zu sammeln, zu Papier zu bringen und sie Ihnen heute zu präsentieren. Ich möchte Ihnen helfen! Ich habe mir vorgenommen, aus Ihnen einen guten Jura-Dozenten zu machen. Ich fände es undankbar von Ihnen, wenn Sie nun nicht hörten, was ich für Sie zusammengetragen habe.“
  3. „Das Thema „Juristisches Lehren” ist ein im höchsten Maße langweiliges und staubtrockenes Thema, ich weiß. Aber man muss sich halt mit ihm auseinandersetzen, wenn man ein anständiger Jura-Dozent werden will. Außerdem gehört es sich nun einmal, über Didaktik mitquasseln zu können. Selbst wenn Sie diesen Vortrag langweilig finden, können Sie das Thema deshalb nicht einfach beiseitelegen! Geben Sie nicht auf, wir müssen einfach gemeinsam da durch. Die Studenten drohen! Sie sitzen immer wie mit einem Messer zwischen den Zähnen lauernd in ihren Reihen, um Sie bei dem kleinsten Fehler zu erdolchen!“
  4. „Ich schlage vor, dass wir heute einmal gemeinsam über das Thema diskutieren: ‚Wie werde ich ein guter Jura-Dozent?‘ Was meinen Sie zu diesem Diskussionsthema? Und wie wollen wir die Diskussion führen? Sind Sie mit diesem Thema einverstanden oder haben Sie ein besseres Thema? – Wenn Sie nicht wollen: Wir können auch etwas ganz anderes machen.“
  5. „Sie kommen wahrscheinlich zu meinem Vortrag, weil Sie Interesse am Thema der juristischen ‚Lehrpraxis‘ haben und ein besserer Jura-Dozent werden möchten. Was möchten Sie über dieses Thema gerne wissen? Welche Teilprobleme möchten Sie gerne zuerst diskutieren? Wo liegen Ihre Ängste und Nöte? Welche spezifischen Probleme haben Sie?“
  6. „Lehren ist ein nicht ganz einfaches Geschäft – aber man kann es ‚lernen‘. Dozenten müssen neben dem selbstverständlichen reinen Fachwissen eine große Menge didaktischer und sozialer Fähigkeiten und Fertigkeiten beherrschen, wenn sie erfolgreich lehren wollen. Weitgehend unterrichten wir ja an Hochschulen, in Arbeitsgemeinschaften, Übungen, Seminaren wie uns der Schnabel gewachsen ist – wir alle sind Naturtalente -, weil wir nicht gelernt haben, planmäßig unser neues professionelles Verhaltensrepertoire, die juristische Didaktik, für unseren neuen Beruf „Dozent“ zu erarbeiten und weiterzuentwickeln. Auch ich habe, nachdem ich meine Richterrobe an den Nagel gehängt hatte, einfach drauflos unterrichtet. Ich habe mich erst viel zu spät gefragt (schreiben Sie bitte nicht mit, ich habe ein Hand-out für Sie):

 

  • Was braucht ein junger Dozent an Hand- und Kopfwerkzeug, wenn er seine juristische Lehre optimieren möchte?
  • Welche Erfahrungen sind für ihn relevant?
  • Welche Methoden, didaktischen und pädagogischen Hilfen sind angezeigt?
  • Wie lernt man effektiv das Lehren? Gibt es eine „Fachdidaktik Jura“?
  • Wie kann ich Feedback-Informationen über mein Lehrverhalten erhalten?
  • Wie plant man eine juristische Lehreinheit richtig?
  • Wie hält man eine lerneffektive gute juristische Vorlesung?
  • Wie kann man den komplizierten curricularen Jura-Stoff einfacher strukturieren?
  • Wie kann man den juristischen Stoff in der vorgegebenen knappen Zeit an die Studenten bringen?
  • Wie kann man die Arbeitsspeicher und die Lustreserven der Studenten öffnen, damit sie für das Langzeitgedächtnis nützlich sind?
  • Wie schütze ich mich vor stofflicher Überfrachtung?
  • Wie verzahne ich Theorie mit Praxis?
  • Wie stelle ich Beratung und Betreuung meiner Studenten sicher?
  • Wie schaffe ich eine fördernde Rückkopplung auf studentisches Lernen?
  • Wie kann man den Stoff unverbrüchlich in ihren Langzeitgedächtnissen verankern?
  • Wie mache ich mein Interesse am Lernfortschritt meiner Studenten manifest?
  • Wie kontrolliere ich meine Lehrerfolge oder –misserfolge?

 

Jeder von Ihnen muss baldmöglichst seine eigenen Antworten auf diese Fragen finden. Entgegen einer landläufigen Meinung funktioniert das Lehren von Jura leider nicht von selbst. Man muss es üben, planen, organisieren, variieren, optimieren, trainieren – kurz: Sie müssen es lernen. Dazu sind Sie heute hier. Wir werden jede Frage versuchen zu beantworten. Sie werden didaktisch schlauer nach Hause gehen als Sie hergekommen sind!“

 

Man hat es sicher bemerkt, dass ich in diesen “Einstiegen” Techniken nachzuahmen versuchte, die häufig von Dozenten zum Motivieren von Studenten eingesetzt werden. Man kann diese Einstiege auf jedes beliebige juristische Vorlesungsthema jedes beliebigen Studien- oder Lehrplanes übertragen.

 

Nehmen wir exemplarisch “Die Hypothek”: Das Thema „Hypothek“ können Sie gegen jedes andere Thema nach Belieben auswechseln. Solche oder ähnliche „approaches“ kommen jedem von Ihnen irgendwie bekannt vor. Denkt man an die Schule, an die Universität, an die Fachhochschule, an die Referendararbeitsgemeinschaften, an den Begleitunterricht, an den Repetitor, fallen einem solche Einstiege – oder andere? – wieder ein. – Wie finden Sie diese Einstiege? Kommen in Ihnen da nicht die gleichen Gefühle auf wie in den Klammerzusätzen? Welche davon beurteilen Sie als günstig, welche als ungünstig und warum? Wie reagieren Studenten auf diese Einstiege?

 

  1. „Heute besprechen wir die Hypothek. Passen Sie genau auf!! Schreiben Sie mit und lernen Sie mein Skript darüber quasi auswendig! Denn in vier Wochen kommt die Klausur so sicher wie das Amen in der Kirche. Es wird sich herausstellen, ob Sie aufgepasst und gewissenhaft gelernt haben oder Ihre Zeit hier nur absitzen. Auch handelt es sich bei der Hypothek um äußerst relevanten Examensstoff. Mir fallen spontan mehrere Examensklausuren ein, welche die Hypothek zum Gegenstand hatten – und Generationen von Studenten sind an der Hypothek kläglich gescheitert.“ (Den armen „Studentlein“ wird gedroht).
  2. „Ich möchte, dass Sie mir versprechen, heute ganz besonders fleißig und ernsthaft mitzuarbeiten. Wir kommen jetzt zur Hypothek! Mir ist es sehr ernst mit diesem Grundpfandrecht. Ich habe mir viel Mühe gegeben, dieses Gebiet aus dem Meer von Literatur und Rechtsprechung für Sie vorzubereiten. Ich habe mir vorgenommen, dass Sie ein guter Sachenrechtler werden und die Hypothek beherrschen. Ich fände es undankbar von Ihnen, wenn Sie nicht aufpassten.“ (Der Student soll sich schuldig fühlen)
  3. „Das heutige Thema “Hypothek” ist im höchsten Maße langweilig und trocken … usw. usw. usw. Das Examen droht!“ (Selffullfilling prophecy)
  4. „Ich schlage vor, dass wir heute über die “Hypothek” diskutieren. … usw. usw. usw.“ (Antiautoritäre Schmiegsamkeit).
  5. „Wir kommen heute zur Hypothek – einem Grundpfandrecht. Was möchten Sie über dieses Thema wissen? Was interessiert Sie besonders an diesem Institut? Was wollen wir zuerst diskutieren? Die Entstehung, die Übertragung, den Untergang, den gutgläubigen Erwerb? Worin liegen Ihre besonderen Verständnisschwierigkeiten und Probleme?“ (Einfach nur Chaos)
  6. „Die Hypothek ist ein nicht ganz einfaches Institut des Sachenrechts – aber wir wissen ja schon aus Erfahrung, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Nachdem wir geklärt haben, welchen Sinn und Zweck Grundpfandrechte überhaupt haben, werden wir uns bei der Hypothek – wie im Übrigen bei allen anderen Sachenrechten auch – in den nächsten Stunden mit letztlich drei Problemkreisen beschäftigen müssen. 1. Wie entsteht eine Hypothek? 2. Wie wird sie übertragen? 3. Wie geht sie unter? Diese drei Problemkreise strukturieren wir sofort einmal in einem Baumdiagramm an der Tafel. Die Hypothek ist für Sie als zukünftige Juristen von besonderer Wichtigkeit. Denn viele von Ihnen werden als Notare, Rechtsanwälte, Richter oder Rechtspfleger, Banker oder Grundbuchführer mit den Banken und den Grundbuchämtern der Amtsgerichte zu tun haben. Die Hypothek ist nun mal immer noch, als eigenes oder über eine Verweisungsnorm als Grundlage für ein anderes Grundpfandrecht, ein wichtiges Sicherungsmittel an Grundstücken für Kredite von Banken. Das Wort „Hypothek“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet: hypo = unter; theka = Lage; also Hypothek, d.h. Unterlage oder Unterpfand – nicht zu verwechseln mit Diskothek, Bibliothek, Videothek oder einfach Theke. Lesen wir zunächst einmal § 1113 BGB i.V. mit § 873 Abs. 1, 2. Alt. BGB. Formulieren Sie aber bitte § 873 Abs. 1, 2. Alt. BGB in einen ganzen Satz um!“ (So könnte man es machen)

 

Der Lehrstundeneinstieg ist – wie der Name schon sagt – dazu da, den Studenten den „Einstieg“ in ein neues Thema bzw. eine neue Aufgabe zu ermöglichen. Der Einstieg soll das neue Thema für die Studenten aufschließen und er sollte nicht aufgrund seiner Langatmigkeit nach 80 % der Lehrstundenzeitinanspruchnahme mit den Worten enden: „Den Rest macht Ihr mal zu Hause“.

 

Es ist stets möglich, wie oben gezeigt, zwischen mehreren „Aufschlüssen“ zu wählen oder sie zu kombinieren, so dass immer Entscheidungen getroffen werden müssen. Wichtig dabei sind der Stoff, das Thema, das Niveau der Studenten, deren Vorwissen und methodisches Können, deren Lernbereitschaft und die Frage nach einem Stundeneinstieg oder einem Einstieg in ein neues Studienthema.

 

Diese „Aufschlüsse“ kann man auf mehreren Wegen erreichen:

 

  • Man kann das, was den Studenten schon bekannt ist, mit dem, was neu erarbeitet werden soll, vernetzen, also eine Verknüpfung zwischen Ergebnissicherung und Neuanfang, eine Wiederholung mit einer Überleitung in den neuen Stoff – die neue Stunde – vornehmen.
  • Man kann bei den Studenten eine Fragehaltung wecken, sie neugierig machen (“Was glauben Sie, wie Ihre Eltern ihr Haus finanziert haben?”) (Hypothek); “Nachdem wir uns stundenlang mit dem Zustandekommen eines Vertrages beschäftigt haben, stellt sich nun die Frage, ob man denn bis zum Jüngsten Tag an einen solchen Vertrag gebunden ist?” (Erfüllung – Anfechtung)
  • Man kann den Studenten einen strukturierten Überblick, mündlich oder schriftlich, an der Tafel oder mit Hilfe anderer Medien geben, an Hand dessen man sich dann entlanghangelt.
  • Man kann das Thema über „die Verantwortungsbereitschaft“ im Hinblick auf die Praxis einführen und dessen Praxisrelevanz hervorheben.
  • Man kann mit persönlichen Erfahrungen, kleinen Anekdoten, kurzen Blicken in die Geschichte die Studenten einfangen.
  • Man kann Vorkenntnisse und Vorerfahrungen in Erinnerung rufen.
  • Man kann auch ganz einfach provozieren. „Sie haben mir etwas voraus, meine Damen und Herren, Sie haben etwas, was ich nicht habe: Keine Ahnung!“

 

Zwischen den ausgeklügelten, manchmal von fachfremden Pädagogen den Dozenten in Seminaren angebotenen Lehrstundeneinstiegen und den in langen Jahren der Unterrichtspraxis an juristischen Hochschulen eingeschliffenen Stundeneröffnungen besteht oft ein himmelweiter Unterschied. Man kann nicht warten, bis alle Studenten motiviert und bei der Sache sind; es ist schier unmöglich, sämtliche relevanten Vorkenntnisse der Studenten zu ermitteln und dann auch in der Einstiegsphase zu reaktivieren. Aber eines lässt sich nicht hinwegdiskutieren: Aus der Art und Weise, in der ein Dozent seine Unterrichtseinstiege zu gestalten pflegt, können deutliche Rückschlüsse auf sein Fachverständnis und seine didaktische Fachkompetenz, auf das Lehr-Lern-Verständnis und das Studentenbild dieses Dozenten gezogen werden.

 

  • Der eine Dozent verzichtet auf jeden Motivationsrummel, den lehnt er einfach ab, kommt grußlos sofort zur Sache, überfällt die Studenten förmlich mit dem Thema und erzwingt so deren Aufmerksamkeit.
  • Der andere Dozent kommt ruhig und gelassen in die Studiengruppe, erkundigt sich zunächst einmal nach den letzten Bundesligaergebnissen, spricht mal mit diesem oder jenem, macht diesen oder jenen Exkurs, um dann reichlich spät, aber dafür in aufgeräumter Atmosphäre, mit der eigentlichen Vorlesungsarbeit zu beginnen.
  • Der eine Dozent hat ein deduktives Vorgehen verinnerlicht, wird also mit begrifflich abstrakten Vorklärungen, mit Gesetzesformulierungen oder strukturierten Baumdiagrammen einsteigen.
  • Der andere geht induktiv in die Lehrstunde, wählt immer den Einzelfall, das Beispiel als Anwendungsbezug für die allgemeine Regel.

 

Nur ein Teil des Einstiegs entzieht sich jeder individuellen Gestaltung: Vor dem Anfang einer neuen Stunde die freundliche Begrüßung und ein paar freundliche Sätze, auch wenn man noch so schlecht „drauf“ ist. Es ist das, was Rhetoriker die captatio benevolentiae nennen, also das Werben (Greifen) nach dem Wohlwollen.

 

Die Frage nach dem „Einstieg“ ist für jede Form des Lehrens unverzichtbar, weil Lehren niemals unvermittelt beginnen kann. Die Art und der Grad der durch den Einstieg erreichten Empfänglichkeit der Studenten entscheiden wesentlich über das Verstehen der gesamten Vorlesung. Die beste inhaltliche Vorlesung ist bei einer schlechten Beschaffenheit der durch den schlechten Einstieg verdorbenen individuellen Empfänglichkeit der Studenten wie der Genuss eines köstlichen Weins in einem durch die Zahnarztspritze betäubten Munde.

 

Der Einstieg in eine juristische Lehreinheit muss komplett einfach und einfach komplett, raffiniert einfach und einfach raffiniert sein! Die ehrgeizigen „Vorleser“ erheischen oftmals die Empathie ihrer Studenten, vergessen aber, die anfängergerechten Einstiegsbedingungen zu liefern. Also: Um was geht es „hier und heute“ genau? Ein anknüpfungsuntauglicher Zutritt in die neue Materie wird emotionslos vorgetragen, ein Fall wird als Einstieg gewählt, der viel zu komplex ist. Die Gründe der auftretenden Teilnahmslosigkeit der Studenten liegen in dieser Überforderung. Studenten lieben gerade am Anfang die Eindeutigkeit anhand eines „Normalfalles“, keines „Exoten“, die klare Bejahung oder klare Verneinung von Tatbestandsmerkmalen. Liegt eine Anspruchsgrundlage vor oder nicht, ist der Straftatbestand gegeben oder nicht, läuft die Subsumtion „rund“ oder nicht? Die Dozenten schildern dagegen oft Probleme, die sich als solche nicht klar zu erkennen geben, die die Studenten nicht als juristische Probleme sehen. Die anstehenden juristischen Schwierigkeiten sind nicht aufgehängt in einem „Baum der Erkenntnis“, nicht eingefädelt in eine aufnahmefähige Gliederung, nicht dem Alltagsleben der Studenten abgelauscht, nicht eingeordnet in das „System Jura“, nicht erklärbar aus einem Fall, sie hängen an losen Fäden. Das ist ein „blinder Überblick“. Er führt nicht zum studentischen Einstieg, sondern zum studentischen Ausstieg aus dem Thema.

 

Die Amerikaner fassen mal wieder mit ihrer unnachahmlichen sprachlichen Prägefreudigkeit alles in zwei griffige Formeln:

 

  • Tell them, what you’ll tell them!
  • Keep it short and simple (K.i.s.s.)!

 

Der Einstieg ist die Visitenkarte Ihrer Lehreinheit. Er ist kein Grußwort, kein Vorwort und muss folglich unbedingt als integraler Bestandteil der ganzen Lehreinheit gestaltet werden. Er führt schnell mit dem Schlüssel: „So! Darum geht es heute!“ in die spezielle juristische Thematik ein. Man sollte es vermeiden, „mit der Tür ins Haus“ zu fallen, sondern eher einen möglichst persönlichen Bezug zu den Studenten herstellen. Man sollte deshalb versuchen, die Studenten direkt anzusprechen, sie immer da abzuholen, wo sie stehen (meist irgendwo im Nirgendwo), das Eis zum Schmelzen zu bringen, Interesse zu wecken, so dass sie den Wunsch verspüren, dem Dozenten zuzuhören. Man sollte einen virtuellen „Brain-Catcher“ in den Einstieg setzen, der die Zuhörer geistig fängt und fesselt: Fall, Gliederung, Baumdiagramm, System, Aktualität.

 

Inhaltlich könnten Sie Ausführungen zu folgenden Punkten wählen:

  • Ziel der Unterrichtseinheit („Was ist mir wichtig, dass es behalten wird!“)
  • Abgrenzung des Themas, Zäune errichten („Über was wird heute nicht gelehrt!“)
  • Themenbezogene Definitionen und Klarstellungen („Sie könnten Zweifel haben, um was es mir heute geht“)
  • Geschichte und Stand der Literatur und Rechtsprechung („Wo kommt das juristische Institut her, wie steht es in der juristischen Landschaft?“)
  • Überblick über Aufbau der Lehreinheit. Was ist geplant. („Ich stelle Ihnen folgendes Orientierungssystem bereit!“)
  • Sachverhalt bei Falleinstieg mit Skizze und chronologischer Tabelle an der Tafel
  • Tatbestand bei Rezensionen einer BGH-Entscheidung
  • Überblick über das, um was es geht / Problemaufriss („Was will ich heute unter einen Hut bringen?“)
  • Praktischer Einstiegsfall bei sachorientierter Thematik, die Problematik schlaglichtartig verdeutlichen („Normalfall“)
  • Gang vorgeben („Inhaltsverzeichnis“ / „Landkarte“ geistig austeilen!)
  • Vorverständnisanknüpfung. Vorwissen der Studenten aktivieren! Brücken bauen! („Kramen Sie mal in den Tiefen Ihres juristischen Gedächtnisses!“)
  • Welche persönlichen, schon erlebten studentischen Interessen sind tangiert? An welche Alltagserfahrung kann ich anknüpfen? („Passen Sie auf! Sie kennen doch alle …“)
  • Roten (Ariadne-)Faden spinnen gemeinsam mit den Studenten („Wer war eigentlich Ariadne und was hat sie getan?“)
  • Welche Sachfragen warten auf Lösungen? („Es geht heute ausschließlich um …“)
  • Einstieg über aktuelle Diskussion („Wissbegier und Neugier wecken“)
  • Provokation („Sie haben eh keine Ahnung!“)
  • Standortbestimmung der Wissenschaft („Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zu benachbarten Themen?“)
  • Leitfragen stellen („Wie kommt ein Vertrag zustande?“ – „Unter welchen Voraussetzungen kann jemand für einen anderen rechtlich verbindlich handeln?“)
  • Wiederholung über die letzte Lehreinheit („Was ist hängen geblieben?“)

 

Wann sollte man in der Vorbereitung für die Lehrstunde die „einsteigende“ Einleitung formulieren? Bedenkt man die Funktion des Einstiegs, ist klar, dass er nicht verfasst werden kann, wenn die Gedanken noch gar nicht geordnet sind und die Gliederung und der Aufbau der Lehreinheit noch nicht stehen – also am besten am Ende der Vorbereitung. Vergessen darf man aber nicht, ausreichend Zeit für die Fertigung des Einstiegs einzuplanen, damit er nicht zu kurz kommt. Er ist und bleibt die Visitenkarte!

 

Noch ein Blick zu den amerikanischen Law-schools?

 

In “Harvard” oder an der “Columbia” ist es selbstverständlich, dass die „students“ für jede (!) Lehreinheit sog. “Lesehausaufgaben” bekommen, deren Umfang auch 300 Seiten locker erreichen kann. Der Inhalt wird beim “Einstieg” vorausgesetzt, ohne seine Kenntnis ist das Verfolgen der Vorlesung unmöglich! Und das alles bei der “socratical method”, der dialogischen Frage-Antwort-Methode, mit Drannehmen ohne Meldungen! Der amerikanische Dozent hat einen Sitzplan mit Bild von seinen „students“ auf seinem Laptop, was natürlich bedeutet, dass eine feste Sitzordnung existiert. – Ein Modell für Sie?