11. Frage

Wozu soll Jura gelehrt und gelernt werden?“

Ehrlich gesagt? Für die Klausuren! Wozu-Fragen werden mit Damit-Sätzen beantwortet, der Grammatiker sagt klassisch: mit Finalsätzen. Es ist die Frage nach den Lehrzielen, nach konkreten Wissensinhalten. Da gehen die Meinungen von Dozenten und Studenten weit auseinander. Ehrliche Antwort der Studenten? „Damit ich meine Klausuren erfolgreich schreiben und das Examen bestehen kann.“ Verwirbelte Antwort der Dozenten? „Es kommt auf forschendes, problembasiertes, kritisch reflektiertes, dogmatisches Lehren juristischer Inhalte auf ethischer Grundlage an.“ Merken Sie es? Es fehlt das „Damit“! „Wer nicht weiß, wohin er will, kommt nicht an!“ –Diese Lebensweisheit gilt es mit der Priorisierung von Lehr- und Lernzielen für die juristische Didaktik umzusetzen. Da die juristischen Ausbildungsgänge meist nur bedingt einen bildungsorientierten oder persönlichkeitsformenden Ansatz verfolgen, muss die juristische Lehre vorwiegend lernzielorientiert ausgerichtet sein. Eine gute Lehrveranstaltung darf niemals blind draufloslaufen, sondern muss ihr Ziel klar im Auge haben. Der Dozent sollte seine Lehrreihe quasi von hinten aufzäumen, was wiederum eine klare Lehr- und Lernzielbeschreibung, ihre Unterteilung in Zwischen- und Unterziele und … eine Kontrolle der Zielerreichung erfordert.

  • Da ist zum einen die Dogmatik. Die Dogmatik ist leider mit negativen Konnotationen behaftet, weil sie mit Glaubenssätzen der Theologie in Verbindung gebracht wird. Dogmatik ist aber der Kern der Wissenschaft vom geltenden Recht, Rechtsgeschichte dagegen ist die Wissenschaft vom nicht mehr geltenden Recht.
  • Zum anderen ist es die Frage nach dem Können für die Klausuren und das Examen der Studenten.
  • Schließlich steht die Frage nach der Praxis, d.h. nach beruflichen Handlungskompetenzen im Wozu-Blick.

 

Durch die Lehrziele, die es leider häufig gar nicht oder nur recht verschwommen in Curricula gibt, werden die entscheidenden Maßstäbe gesetzt, an denen sich das konkrete didaktisch-methodische Handeln des juristischen Dozenten messen lassen müsste: Mündiger Student oder „Subsumtionsidiot“? Juristische Bildung oder juristische Ausbildung? Abrichtung oder Befähigung zur eigenen Verantwortung für die Gestaltung und Weiterentwicklung des Rechts in der Gesellschaft? Juristische Persönlichkeit oder subalterner Staatsbürger? Theoretiker, Dogmatiker oder Praktiker? Oder von allem ein bisschen?

 

Ein juristisches Lehrziel ist die Beschreibung des gewünschten Ergebnisses eines juristischen Lehr-Lern-Prozesses zwischen Dozent und Student. Ziel und Ergebnis dürfen dabei nicht verwechselt werden, wie jeder Lehrende aus leidvoller Erfahrung weiß. Ziele sind präskriptiv, also vorschreibend – Ergebnisse deskriptiv, also beschreibend. War „mein“ Ziel z.B. die Durchleuchtung, Beherrschung und Anwendung des „Gutachtenstils“, so entsteht das Ergebnis „Gutachten“ und die Fähigkeit zur Subsumtion in der praktischen Anwendung am Fall im Kopf jedes einzelnen Studenten jeweils neu und anders. Im Idealfall müsste das dozentische Lehrziel-Gutachten dem studentischen Lernergebnis, also der Beherrschung und Anwendung des Gutachtens, entsprechen!

 

In der juristischen Ausbildung gibt es grundsätzlich nur ein großes Richt-Lernziel: Mit Hilfe der Anwendung von Gesetzen auf Lebensausschnitte, die wir Sachverhalte nennen, sowie bestimmter juristischer Spezialmethoden, die wir „Gutachten“ und „Subsumtion“ und „Auslegung“ nennen, zu vertretbaren Lösungen zu kommen. Ob man es „Problembasiertes Lehren und Lernen“, „Forschendes Lehren und Lernen“, „Projektbezogenes Lehren und Lernen“ oder „Fallbezogenes Lehren und Lernen“ nennt, ändert nichts an der Tatsache, dass juristisches Wissen sowohl im Examen als auch in den semesterbegleitenden Klausuren immer anhand konstruierter Fälle abgeprüft wird und in der beruflichen Praxis gefordert ist.

 

Dieses Klausurenerfahrungswissen erlangen Studenten des Anfangs meist über Studentengeraune höherer Semester, später vom Repetitor. Leider zu wenig von den Dozenten selbst. Was fehlt, sind Vorbereitungsangebote der Universitäten. Klausuren im Jurastudium gehören zu den eindringlichsten Beispielen dafür, wie Leistungskontrollen Lernprozesse dominieren können und folglich auch Lehrprozesse dominieren sollten. Jurastudenten richten schon früh sowohl die Inhalte ihres Lernens wie auch ihr eigenes Lernverhalten an dem Mehrwert für die ersten Semesterabschlussklausuren aus. Allerdings taucht vom ersten Tag an die Angst vor der Ungewissheit auf, dass die Anforderungen, welche die Klausuren inhaltlich wie klausurentechnisch stellen, völlig ungeklärt sind. „Gute“ dozentische Ratschläge wie „Es kommt auf Struktur- und Rechtsverständnis an“, „Sie müssen juristisch denken und arbeiten“, „Gut achten auf das Gutachten!“, geben ihnen den Rest an Angst und Unsicherheit. Es fehlen Übungen, Fall- und Klausurentraining, Erfahrungen in Klausurenschreibungen, ihren Bewertungen und Korrekturen, um eine Analyse der eigenen Stärken und Schwächen möglichst früh vornehmen zu können und um Sicherheit zu gewinnen.

 

Unsere bestaunenswerte Fähigkeit ist es doch, mit einer endlichen Zahl von Gesetzen unter Zuhilfenahme weniger methodischer Regeln eine unendliche Zahl von Fällen zu lösen. „Jura“ im Studium ist, verkürzt, nichts anderes als eine durch harte Übung erarbeitete Subsumtionskunst. Diese Fähigkeit gilt es für Klausur und Examen zu vermitteln. Zentraler Ansatz muss die Fallorientierung sein. Diesem Ziel ist alles unterzuordnen! (Im Beruf folgt noch die schwierige Sachverhaltsaufklärungskunst.) In der Wahrnehmung der Studenten wird dem vorgehaltenen Wissen für die Klausur eine weitaus höhere Bedeutung beigemessen als dem dogmatischen Vorlesungswissen. Die Klausurenanforderungen inhaltlicher, methodischer, stilistischer, auch formaler Art, – also Gehalt und Gestalt – sind durch den Dozenten offenzulegen. Nur das bringt Verlässlichkeit und Vertrauen in das Lehren.

 

Dieses Lehrziel muss man in drei Unterziele unterteilen:

 

  • Lehrziel 1: Das ist das juristisch-dogmatische Wissen! Verstehen, Aufklären und Aufbereiten von juristischen Sachkenntnissen und Gesetzen.
  • Lehrziel 2: Das ist das juristische Können! Das Kennenlernen des Zusammenwirkens von Methoden, Gesetzen und juristisch-infizierten Lebensausschnitten (Sachverhalten); die Erarbeitung von Methoden (juristische Denkoperationen) und Techniken (juristische Arbeitsweisen), um die aufbereiteten Sachverhalte mit aufbereiteten Gesetzen in der praktischen Anwendung „am Fall“ sicher zu spiegeln.
  • Lehrziel 3: Das ist der juristische Hintergrund! Es ist die Einbettung unseres Rechtssystems in seine Geschichte, sein philosophisches Fundament und seine europäische Zukunft. Alles wichtig, aber nicht aus klausurenfixierter Studentensicht, woraus erhellt, dass die diesbezüglichen Vorlesungen gerne als „überflüssig“ gemieden werden.

 

Das „Chaos“ so mancher Lehrveranstaltung resultiert aus einer einseitig an juristischen Inhalten orientierten Didaktik, nicht an einer anwendungsbezogenen lernzielorientierten Lehre. Es gibt fraglos vieles, was man als Jurist wissen muss. Aber es gibt mehr, was man als Jurist können muss: Nämlich das könnerhafte Vermögen, Rechtsfälle mit Gesetz, Methode und Rechtsprechung zutreffend, zumindest vertretbar, zu bearbeiten und zu entscheiden. (Sie merken, wie sehr mir diese Frage am Herzen liegt.)

 

„Aber, ich habe doch alles gebracht!“, seufzt so mancher Dozent nach seinem Klausurenwaterloo. „Aber wir haben nichts verstanden!“ oder „Aber wir wussten nicht, wie und wo wir das Wissen anwenden sollten.“, schallt es von der Front der verzweifelten Klausurenschreiber zurück. Dazu kann es führen, wenn man als Dozent nicht an juristischem Wissen und handwerklichem Können gleichermaßen lernzielorientiert arbeitet.

Grundsätzlich ist es nicht die Aufgabe des Dozenten, die Grob- und Richtziele festzulegen. Das sollte durch die Studienpläne der Fakultäten und ihre Curricula geschehen. Vielmehr muss er aus diesen abstrakten, grob vorgegebenen Zielen, konkrete, feine individuelle Ziele für jede seiner Lehrveranstaltungen planen. Bei dieser „Operationalisierung“ (Cluster, Datenblock, Baumdiagramm) geht es darum, aus curricular Mehr- und Vieldeutigem Eindeutiges zu machen und sich ausschließlich danach auszurichten und sich vor jeder Lehrveranstaltung zu fragen, was seine Studenten nach seiner Lehrveranstaltung wissen und können sollten. „Was auf was“ aufgebaut und „Was an was“ angedockt werden kann. Dieses Lernziel dominiert die Inhalte und die Lehrmethoden. „Was müssten meine Studenten wissen und können, wenn sie mir zeigen wollten, dass sie meine Lehrziele erreicht haben?“ wäre die vor der Veranstaltung an sich selbst zu stellende wichtigste didaktische Frage! An der Antwort lässt sich die Lehrzielerreichung leicht festmachen.

 

Einer guten didaktischen Kompetenz des Dozenten ist es überlassen, für die Lernenden die „richtigen“ Lehr-Lern-Inhalte für einen bestimmten Lehr-Lern-Erfolg im Hinblick auf ein bestimmtes Lehr-Lern-Ziel auszuwählen, alles wohl dosiert abzustimmen und diese Ziele durch richtige Inhalts- und Methodenentscheidungen und seine Dozentenpersönlichkeit spannend, interessant und vor allem für die Studenten als Lernerfolge erreichbar zu machen. Lehrziel, Lehrinhalt und Lehrmethode der juristischen Stoffvermittlung durch den Dozenten müssen in sich stimmig sein und zu Lernziel, Lerninhalt, Lernmethode und zu der Klausurenkompatibilität der Studenten passen. Wer z.B. das Lehr-Ziel hat, das Abstraktionsprinzip darzustellen und in einer Klausur abzuprüfen, muss seinen Lernenden

  • sowohl den Inhalt des für diese abstrakte Operation erforderlichen Rechtsgeschäftsverständnisses darstellen,
  • als auch die Methoden des Gutachtenstils und der Subsumtionstechnik beibringen,
  • als auch die Inhalte und den methodischen Aufbau der Anspruchsgrundlagen der §§ 433 Abs. 2, 985 und § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB erklären
  • sowie die Bedienungsanleitung für eine entsprechende Klausur mitliefern.

 

Sonst bleibt das Ziel unerreichbar.

 

Wenn man diese Stimmigkeit von Lehr-Lern-Zielen, Lehr-Lern-Methoden und Lehr-Lern-Inhalten verfehlt, ist dies schnell und gut an der Stimmung der Studenten ablesbar: Die Studenten sind lustlos oder aggressiv, weil sie gar nicht verstanden haben, was der Dozent eigentlich von ihnen wollte, und meinen, nur Zeit vertan zu haben. Damit am Ende der Lehreinheit nicht so mancher Student auf die Frage des verbummelten Kommilitonen „Worüber hat der Dozent denn heute gesprochen?“ antwortet: „Das weiß ich nicht, das hat er nicht gesagt!“ oder auf die Frage „Konnte man das für die Klausur gebrauchen?“ entgegnet „Nein! Du hast nichts versäumt!“, informieren Sie immer schon im Einstieg über Ihre heutigen Lehrziele. Und im Ausstieg – in der Zusammenfassung ihrer Vorlesung – über die Klausurenrelevanz des Themas.  Stellen Sie Transparenz und Relevanz her! Dann herrscht Klarheit.

 

Diese Klarheit ist unabdingbar für eine lernzielorientierte „Wozu-Didaktik“. Die Instrumente dazu sind variabel. Fragen Sie doch am Ende einmal in die Runde: „Was meinen Sie, war heute unser Lehr- und Lernziel?“ – „Was nehmen wir mit aus der heutigen Stunde?“ – „Haben Sie etwas für Ihre Klausur gelernt?“ Kleine Diskussionsrunden oder Fragefünfminüter geben Ihnen schnell Aufschluss. Nur auf die klassische Semester-Endkontrolle der Klausur zu setzen, erzeugt nur den klassischen Druck, die klassische Angst und die klassische extrinsische Motivation. Lernzielkontrollen dienen dem Lehrerfolg, nicht der Angsterzeugung!

 

Und noch eins: Lernen geschieht immer mit „Kopf“ und „Hand“ (das pestalozzische „Herz“ lassen wir hier mal beiseite). Den Schwerpunkt nur in der Theorie zu setzen, ist falsch. Die juristische Lehrveranstaltung bekommt Schlagseite, das Lernzielschiff sinkt! Der kognitive Bereich – Wissensziel – wird mit dem „Kopf“ erarbeitet, der klausurtechnisch-methodische Bereich – Arbeitsziel – mit der praktischen Hand besetzt. Erst die praktische Arbeit am Fall festigt das juristische Wissen und gibt Antwort auf die Frage „Wie und wodurch lernt man juristisches Verständnis?“. Nur die eigenständige Fallanwendung ist dafür die beste Lernzielkontrolle. Effizienz und Relevanz zeigen sich nur am Fall, im Anfang am alltäglichen Normalfall, später dann am Exoten in der ersten Klausur. Und dafür lernt der Student! Und das ist sein Lernziel!

 

Wird die stimmige Wechselwirkung zwischen Lehrziel, Lehrinhalt und Lehrmethode des Dozenten und Lernziel, Lerninhalt und Lernmethode der Studenten erreicht und passt alles zueinander,

  • dann hat der Dozent das gute Gefühl, die Lehr-Lern-Einheit sei „rund“ und „aus einem Guss“ gewesen,
  • dann haben die Studenten das wohlige Gefühl, sie hätten die Lehr-Lern-Einheit auch selber halten können. Sie kommen zu der Überzeugung:
    • „Das Anspruchsniveau hat für mich gestimmt.“
    • Das vom Dozenten formulierte Lehrziel ist zu meinem Lernziel geworden.“
    • „Ich habe meinen juristischen Kompetenzzuwachs gespürt.“
    • „Ich bin in der juristischen Denk- und Arbeitsweise vollkommener geworden.“
    • „Die Lehr-Lern-Einheit hatte ein ‚Timing‘, so dass ich am Ende keinen Abbruch, sondern einen Aufbruch, kein ‚Fertigmachen‘, sondern ein ‚Fertigwerden‘ erlebt habe.“
    • „Ich habe für die Klausur viel gelernt.“

 

Hat man dieses wohlige Gefühl bewirkt, dann hat man didaktische Kompetenz bewiesen und eine optimale Dozenten-Studenten-Beziehung erreicht. Man kann die Frage nach dem „Wozu“ jetzt ehrlich beantworten: „Ich habe gelehrt, damit meine Studenten juristisches Verständnis entwickeln und gute Klausuren schreiben.“