Die Was-Frage ist die Frage nach den Lehr- und Lerninhalten, dem „Stoff“. Sie ist aber eigentlich mit der Wann-und-Wem-Frage gekoppelt. Diese Fragen betreffen das Kraftfeld des juristischen Curriculums. Es ist eine jeden Dozenten immer wieder aufs Neue faszinierende Frage der Didaktik, ob dieser oder jener Stoff (Was-Frage) für diese oder jene Studenten (Wem-Frage) verfrüht, gerade richtig oder verspätet (Wann-Frage) angeboten wird, ob man sofort mit dem Klausurentraining beginnt, ob man sofort zum „Frontalangriff“ auf die juristische Literatur bläst oder mehr hinhaltend taktiert, ob Schemata vor- oder nachgeschaltet werden sollen, ob man vor- und/oder nacharbeiten soll, ob, ob, ob … Zu diesen Fragen gibt es viele verschiedene und entschiedene Meinungen, aber nur wenige wissenschaftlich stichhaltige Begründungen.
Unumstritten müsste sein, dass es eine Reihenfolge bestimmter „Lernfenster“, also bestimmte aufeinander aufbauende Lehrinhalte geben muss. Der gesetzliche Pflichtfachkatalog ist ein Fass ohne Boden, diese Mengen kann kein Student verarbeiten, auch nicht der beste. Der juristische Stoff ist ganz einfach so nicht studierbar! Die Curricula müssten zu Wegweisern für das zu vermittelnde Wissen werden, es sinnvoll ordnen und gruppieren und es in eine lehr- und lernbare Reihe bringen. Eine juristische Lehre ohne klare und transparente Lern-, Studien- und Prüfungsziele ist didaktisch eine Geisterfahrt!Das müsste die juristische Didaktik längst geklärt haben! Wissenserwerb setzt immer Vorwissen voraus. Ohne Andockstellen gehen Informationen ganz überwiegend verloren. „Eins nach dem anderen“ und nicht „Alles gleichzeitig“ oder gar „Das Neue vor dem Alten“ ist die allergrundlegendste Didaktikregel. Gerade im Anfang gibt es bestimmte Gesetzmäßigkeiten für die „Reihenfolge“ von Lehrinhalten. Verstehen die Studenten nichts, liegt es oft an der falschen Reihenfolge der Stoffvermittlung und nicht an der oft wiederholten „Jura ist nun mal so kompliziert!-Formel“ Im fortgeschrittenen Studium gibt es weniger Regeln, aber eine ist unumstößlich:
Das Lehren sollte immer nur vom Nahen zum Fernen, vom Einfachen zum Komplizierten, vom Vertrauten zum Fremden, von der Einheit zur Vielheit, vom Konkreten zum Abstrakten führen. Und vom Fall zum Gesetz. Nicht oder nur ganz selten umgekehrt!
Es liegt keineswegs in der „Natur“ des Jurastudiums, dass man nicht von Anfang an versteht, worum es geht. Die Curricula müssen neben der Choreografie eben eine Chronologie fixieren. Solange das methodische Fundament nicht ausgehärtet ist, führt das ständige Wechseln von Fachperspektiven, das Springen durch die Gesetze, Rechtsprechung und Meinungsstreitereien nur zu Schwindelgefühlen bei den Studenten. Die Spezialisierung muss dem Generellen nachgelagert werden, das kann didaktisch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. „Denken Juristen anders als andere Leute?“ – Jeder Nichtjurist ruft: „Ja“ – Warum? Wegen ihrer Methodik bei der Rechtsanwendung. Jeder tätige Jurist unterliegt immer dem Zwang, bei jedem denkbaren Sachverhalt eine intersubjektive, nachvollziehbare Verbindlichkeit seiner Entscheidung herzustellen. Das gelingt nur mit juristischer Methode. Diese muss deshalb curricular fundamental als Unterbau der Juristerei am Anfang der Vermittlung stehen.
Die zuständige Teildisziplin der Rechtswissenschaft, die sich um diese Fragen kümmern sollte, aber nicht kümmert, weil es sie gar nicht gibt, ist die Curriculum-Didaktik. Im Barockzeitalter sprach man vom „curriculum scholasticum“ und meinte damit den sich jährlich wiederholenden Ablauf der Unterrichtsinhalte. In den 1970er Jahren wurde der Begriff aus den USA neu „importiert“ und popularisiert. Die Curriculumforschung führt ein Schattendasein an juristischen Fakultäten und stellt im Wesentlichen eine Terra incognita dar. Es herrscht bedauerlicherweise gerade im Studienbeginn ein „hidden curriculum“, das oft nicht intendierte, nicht reflektierte, nicht explizierte, häufig von alleingelassenen Studenten selbstständig – und deshalb meist falsch – generierte Lernziele und Anforderungen beinhaltet. Und das ist schädlich.
Dabei wäre ein Curriculum für Dozenten wie Studenten aus zwei Gründen von großer Wichtigkeit:
Curricula sollten die Inhalte des zu vermittelnden Stoffes, der aus dem Gesamtbestand des über Jahrhunderte angesammelten juristischen Wissens und Könnens stammt, detailliert mit einer Aufschlüsselung der Lernziele der Vorlesungen und mit vorlesungsbegleitenden Materialien festlegen. Das ist nämlich eine unüberschaubare Menge an tradiertem Stoff! Umso wichtiger ist es aber dann, dass selektiert und fixiert wird. Und dass alles, was gelehrt und gelernt wird, immer wieder auf seine Aktualität, Richtigkeit, Studierbarkeit, Lernbarkeit, Notwendigkeit und Akzeptanz überprüft wird. Wir leben heute in einer Zeit, in der sich das Wissen explosionsartig vermehrt, nicht nur in der Medizin. Auch jeder der mit Jura Befassten droht in der Normflut des sich auf allen Gebieten austobenden Gesetzgebers und der Entscheidungsflut der Gerichte zu ertrinken.
„Alles muss irgendwann einmal gesagt werden“, mag die Angst der Dozenten nehmen vor einem Verstoß gegen den gesetzlichen Pflichtstoff, ist aber didaktisch grundfalsch. Bevor das Lehren von Jura beginnt, müssten immer schon auf rechtsdidaktischer Basis umfangreiche curriculare Auswahl- und Strukturentscheidungen getroffen worden sein. Auch muss dem Wunsch der Studenten nach Standardisierung Rechnung getragen werden. Die Frage, was jeweils in Jura und von Jura gelehrt werden soll, kann nicht durch eine bloße Addition verschiedener – für sich allein betrachtet immer „lohnender“ – Wissensgebiete und Aufgabenkomplexe beantwortet werden. Es kann auch nicht dem Zufall oder gar der Willkür einzelner Fach-Dozenten überlassen bleiben. Aufgabe der Curriculumdidaktik wäre es, Kriterien für die Stoffauswahl, für die didaktisch sinnvolle Reihenfolge, die Verzahnung der Stoffvermittlung, die Lernfähigkeit der Inhalte und die Bedeutung des Einzelnen für das „Ganze“ des juristischen Netzwerks bewusst zu machen. Diese Kriterien wären zu definieren, zu reflektieren, zu diskutieren und auf aktuelle und bedarfsspezifische Bedürfnisse für die Klausuren, die Hausarbeiten und das Examen, aber auch den Beruf zu beziehen. Jedenfalls scheint mir außer Zweifel zu stehen, dass die heute verfügbaren juristischen Lehrangebote in allen „Tempeln des Lehrens“ die Lernkapazitäten jedes einzelnen Studenten bei weitem überschreiten, eben nicht zwischen tragenden und lastenden Teilen, „erheblich“ und „unerheblich“, zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ unterscheiden, keine fundierende Propädeutik kennen, nicht genügend vernetzen, kein exemplarisches juristisches Lernen und kein Fall- und Klausurentraining ermöglichen. Eine Bestandsaufnahme der Curricula wäre daher in den juristischen Fakultäten dringend geboten.
Die Lehrinhalte können auch an Hochschulen nicht dem Belieben des einzelnen Dozenten überlassen werden, insbesondere dann nicht, wenn, wie im ersten Semester, fächerübergreifend gelehrt werden sollte. Methodenkompetenz? – Welche bitte und wer lehrt sie wann? – Beherrschung der Grundprinzipien? – Welche sind das? – Eigenständiges juristisches Denken? – In welche Richtungen? Anhand welcher Leitplanken? Gerade in dieser Anfangsphase wäre eine genaue curriculare Absprache über die jeweiligen Inhalte und ihre Verabfolge unverzichtbar, damit nicht doppelt gelehrt oder im Vertrauen auf die Lehre des Kollegen Methodisches gar nicht gelehrt wird. Wer lehrt Gutachtenstil, wer Klausurentechnik, wer Auslegungsmethoden, wer Gesetzeskunde? „Das haben Sie sicher in ‚Einführung in die Rechtswissenschaft‘ gehört“. Hat man? – Hat man eben oft nicht!
„Die Studenten haben keine Ahnung vom Gutachtenstil!“. „Die Studenten weisen ganz erhebliche Defizite im Klausurenschreiben auf“. „Die Studenten zeigen große Lücken in der Subsumtionsarbeit!“ Nichts wird von Dozenten so sehr beklagt, wie die Tatsache, dass die Studenten einfach zu wenig über Inhalt und Form des juristischen „Denkens und Arbeitens“ wüssten, und das müsste geändert werden. Ja! Müsste! Eines der wichtigsten Dinge, die ein Dozent begreifen muss, ist die Tatsache, dass juristisches Wissen nur aufeinander bezogen erfolgreich gelehrt und gelernt werden kann. Das Postulat nach „vernetztem“ Denken fehlt in keiner juristischen Veranstaltung, aber nur wenige Dozenten verfügen selbst über ein solches Denken, und noch seltener wird dargelegt, wie der Student zu solch einem „vernetzten“ Wissen kommen kann.
Ein Beispiel: Eine Anspruchsprüfung der das 1. Semester beherrschenden § 985 BGB, § 433 Abs. 2 BGB oder der § 812 Abs. 1 BGB müsste mindestens einmal in die Durchsetzbarkeit der ZPO transportiert, eine materielle Strafbarkeit nach § 242 StGB oder § 211 StGB in das strafprozessuale Ermittlungs- und Hauptverfahren geführt werden. Den Studenten muss frühzeitig bewusst gemacht werden, dass es ein BGB und ein StGB ohne Durchsetzbarkeit und Vollstreckung nach der ZPO und nach der StPO nicht geben kann und, umgekehrt, formelle Prozessordnungen ohne materielle Gesetze keine Daseinsberechtigung haben. Vernetzung setzt nicht nur voraus, Wissensbrücken zu bauen und Zusammenhänge herzustellen, sondern auch Wissenszäune zu errichten, also die Beschränkung auf wesentliche Inhalte. Natürlich muss man sich nicht in den Weiten der StPO oder ZPO verlieren, aber einmal ein Verfahren in einer Stunde im Anfang durchzuspielen ist unabdingbar. Mit wie viel Elan würden die Anfangssemester ein Amtsgericht besuchen, wenn sie eine strafrechtliche oder zivilrechtliche Hauptverhandlung wenigstens in Großbuchstaben lesen könnten.
Und: Wer vernetzt wann das Wissen mit den Methoden der Rechtswissenschaft und der Klausurentechnik? Die Methodik auf eine Arbeitsgemeinschaft abzuschieben, meist mit einem hilflosen dozentischen Anfänger ist zu wenig und dürfte es nicht geben! Gibt es aber! Mit immer mehr juristischem Fachwissen und immer weniger Vernetzung und Methode gerät der Student in die für Jurastudenten typische Falle: Er verzweifelt!
Würden solche Inhalte rechtsgebietübergreifend, in sinnfälliger Weise curricular fixiert und genauso vermittelt, wären die Vorteile für die Studenten dramatisch: Sie lernten juristische Dinge im sachlichen, logisch-begrifflichen, alltäglichen und vor allem „normalen“ materiellen und formellen Zusammenhang zu sehen, und dies beförderte ihre Intelligenz, ihr Interesse, ihr methodisches Verständnis, ihre Motivation, ihr Problembewusstsein und die Gedächtnisverankerung ungemein.
Das Studium und die Lehre sind von vornherein gesetzlich konditioniert: Deutsches Richtergesetz, Juristenausbildungsgesetz, Prüfungsordnungen, Studienordnungen, Lehrverpflichtungsverordnung, finanzielle Rahmenbedingungen. Die überkommenen Curricula richten sich traditionell sehr stark an diesen Vorgaben und an der gesetzlichen Gliederung des Normmaterials aus. Gesetze und Gesetzgebung folgen aber keinen didaktischen Prinzipien. Buch für Buch im BGB oder Paragraf um Paragraf in seinem AT abzuhandeln, folgt der Tradition und der juristischen Sozialisation der Dozenten, die diese „bewährte“ Gliederung instinktiv wählen, auch wenn dazu keine Notwendigkeit besteht. So könnte man das Minderjährigenrecht in soziale und gesellschaftliche Problemzusammenhänge von AT BGB über arbeitsrechtliche Bezüge bis hin zum Familienrecht stellen. Man müsste den Kauf von Mobilien und Immobilien bis zur Übereignung und bis in die Grundbucheintragung verfolgen. Kausalitäten müssten zusammenhängend für BGB, StGB und Öffentliches Recht gelehrt werden. Es gäbe Hunderte solcher Beispiele.
Fachkonzeptionelle, wissensstrukturelle, lehrdidaktische, bearbeitungsmethodische und inhaltliche Vorgaben sollten zwar individuell für jeden Professor und jede Vorlesung unabdingbar sein. („Die Lehre ist frei.“) Besser und begrüßungswerter wäre es aber, wenn es generelle Vorgaben in einer strikten Rahmung gäbe für alle Professoren einer juristischen Fakultät. Lehrfreiheit hin oder her. Ein Pochen auf diese Lehrfreiheit ist kontraproduktiv, man kann sie im Schwerpunktbereich ausleben, nicht im Pflichtfachvorlegungsbereich. Hier geht es um die Verantwortung für die aus den Vorlesungsinhalten resultierenden Klausuren und für das Examen. Jede klassische Vorlesung hat auch Möglichkeiten, klausurenorientiert zu lehren und abstraktes Wissen in konkretes Anwendungswissen umzusetzen.
Es bleibt noch die Frage: Wer sollte die Entscheidungen für diese Inhalte der Curricula treffen? – Die Basis, die Dozenten, der Gesetz- oder Verordnungsgeber oder die Verwaltung? Heute sprechen wir intern von „hauseigenen Lehrplänen“ einer Hochschule, von „offiziellen Lehrplänen“ der Ministerial-Bürokratie, von „persönlichen Lehrplänen“ eines Dozenten und „individuellen Lernplänen“ jedes einzelnen Studenten. Wann hört diese Gemengelage einmal auf? Die offiziellen Studienpläne der Fakultäten sind jedenfalls unvernünftig, weil sie als viel zu grobmaschiges Netzwerk weder lehr- noch lern- noch insgesamt studierbar sind! Es ist einfach zuviel und zu unsystematisch! Und es gibt nicht mehr viele Dozenten, die noch den Überblick über die gesamte Juristerei haben, die erb-, familien-, sachen- und schuldrechtliche Fragen mit strafrechtlichen Problemen und mit der freiwilligen Gerichtsbarkeit verzahnen, geschweige denn mit „fremden“ Rechtsgebieten verknüpfen können, die die Institute des Allgemeinen Teils des BGB in den Instituten der Bücher II bis V spiegeln können und umgekehrt, die StGB oder BGB und ihren Umsetzungsrechten stopp und ZPO zu demonstrieren in der Lage sind.
Ganz besonders liegt mir noch die Besonderheit der Studieneingangsphase am Herzen. Diese Phase umfasst nicht etwa nur eine „Orientierungswoche“ oder eine „Arbeitsgemeinschaft“, sondern das ganze erste Semester.
Es ist die Statuspassage vom Schüler zum Studenten, ein Erwachsenwerden an der Universität. Sie erfordert eine erhebliche Anpassungsleistung an eine spezielle neue Umwelt. Es müsste eine eigene Erstsemesterdidaktik und ein spezielles Erstsemestercurriculum geben. Die Inhalte dieses gewichtigen Entwicklungsabschnitts, in dem aus bloßer Neugier Kompetenzen, aus Geneigtheit Interesse erwachsen, sind so wichtig, dass ich sie einmal auflisten möchte:
Summasummarum: Die Studieneingangsphase muss bei der Abfassung der Curricula mehr Berücksichtigung finden. Mehr Verschulung? – Ja! Es muss die Motivation für das Studium erhöht und der Unterbau geschaffen werden, auf den man dann den großen theoretischen Überbau aufsetzen kann. Erst kommt der Generalist, dann erst der Spezialist! Nur so ist es dem Studenten möglich, diese grundlegende Einübung des juristischen Denkens und Arbeitens, also Wissenserwerb und Anwendungskompetenz bald auf andere Rechts- und Arbeitsfelder zu übertragen, die im Spezialisationsprozess folgen. Der berühmte „Knoten“, wie alles zusammenhängt, darf sich nicht erst in der Examensvorbereitung – meist beim Repetitor – lösen, vielmehr müssten sich schon nach der universitären Studieneingangsphase Wissens- und Kompetenzinseln zu einem Ganzen zusammenschließen. Durch wen? – Durch Sie, die Dozenten des Anfangs. Deshalb gilt ja der didaktische Lehrsatz: Am Anfang müssen die Besten lehren, später genügen die Mittelmäßigen.